Wie vergisst man bittere Armut? Mit fasnächtlicher Fantasie und witziger Fiktion. Man baut ein unermessliches imaginäres Reich, gibt sich tolle Titel und riesige Reichtümer und regiert das Ganze von einer „loblichen Residenz“ aus. Doch Luftschlösser sind meist von kurzer Dauer. Wie Seifenblasen platzen sie schnell. Dass ein solches Fantasiegebilde Jahrhunderte überlebt, Krisen und Kriege übersteht und heute noch besteht, ist eine Rarität. In Stans gibt es diese konkrete Ausnahme, den „Unüberwindlichen Grossen Rat“ (UGR). Er regiert noch heute – typisches Konstrukt nidwaldnerischer Phantasie und Kreativität und in seiner Form charakteristisch fürs Naturell der Leute von Nid dem (Kern-)Wald.
Metropole Stans – Zentrum eines unermesslichen Reichs
Der UGR reicht zurück in die Zeiten des Spätmittelalters – bis zu den Burgunderkriegen im Ausgang des 15. Jahrhunderts mit dem sogenannten Saubannerzug von 1477. (1) Die exklusive fasnächtliche Vereinigung sei, so nimmt man an, in jenen tollen Tagen aus einer alten Knabenschaft herausgewachsen. Die Gründungsgeschichte beruht auf der fiktiven Annahme, dass der „Unüberwindliche Grosse Rat“ Mittelpunkt eines riesigen Reiches sei – mit tapferen Reichsrittern und edlen Reichsfrauen. Die aristokratisch regierte Republik des UGR herrscht von der „berühmten, wohlgefreiten und loblichen“ Metropole Stans aus über unermessliche Territorien, über Städte und Länder, über Meere und Inseln und natürlich über ein sagenhaftes Vermögen.
Im mausarmen Nidwalden jener Zeit reich zu sein, das erlaubt eigentlich nur der Tagtraum. Die Realität ist eine andere, die Bevölkerung ärmlich und ihr Lebenskreis eng begrenzt. Nidwalden liegt fernab grosser Handelsrouten, abgeschottet und von Luzern her bis 1964 öffentlich nur auf dem Wasserweg erreichbar. Der kleine Flecken Erde ist eingeschlossen „zwische See und heeche Bärge“ und „ganz versteckt“, wie es in der Nidwaldner Hymne von Heinrich Leuthold heisst. Und noch krasser: Das Land Nidwalden befindet sich im Schatten der besser gestellten Obwaldner.
Grossspuriges Bluffen mit Taten und Titeln
Gewaltige Güter und grosse Gelder schaffen eine imaginäre Gegenwelt zur dürftigen Wirklichkeit: So tun, als ob man wohlhabend wäre! So tun, als ob die enge Schifflände bei Stansstad ein Meerhafen wäre – für Fahrten in die weite Welt. Dieser gelebte Tagtraum macht den UGR aus: die bittere Armut und Enge mit heiterem Humor kompensieren – mit Witz und Lust am findigen Fabulieren und grossspurigen Prahlen mit erfundenen Taten, protzigen Titeln und grossen Orden.
Da regiert der omnipotente Reichsschultheiss zusammen mit seinen Ministern, dem Reichsschatzmeister oder Trésorier, dem Reichskanzler und dem Reichspannerherrn. Ihnen zur Seite stehen die Constanten mit dem Reichszeremonienmeister, dem Reichsläufer und manchen wichtigen Würdenträgern mehr. Zum fiktiven Staat gehört ein eigenes Reichsgericht und zählen diplomatische Repräsentanten in aller Herren Länder. Wie am französischen Hof von Versailles wimmelt es auch im UGR von Eminenzen, Excellenzen, Evidenzen. Einer ist bedeutsamer als der andere. Fantasievoll gekleidet treten sie auf und entsprechend launig-verspielte Reden werden zelebriert. Der Möglichkeiten sind viele: vom rauschenden Reichsfest an Fasnacht über das Mittefastenfeuer von Laetare bis zum feierlichen Reichskongress.
Der irdische Flirt mit der Unsterblichkeit
Im „tollen“ Gremium des UGR hat auch die Geistlichkeit ihren festen Platz. Mit gutem Grund. Der UGR ist zugleich die älteste kirchliche Bruderschaft im Kanton Nidwalden. Sie steht unterm Patrozinium der hl. Maria und des hl. Sebastian. Zum Jahreskreis gehören darum gemeinsame Messfeiern, zelebriert vom eigenen Domkapitel. Die hoch über dem Talgrund thronende St. Joder-Kapelle ob Grafenort wird so zum Reichsdom des UGR.
Das alles führt zur vergnüglichen Verbindung von Ernst und Spiel, von Religiösem und Weltlichem, von Jenseitigem und herzhafter Lebensfreude. Es ist das barocke Doppelspiel von Rosenkranz und Fasnachtsmaske, von Fasten und Festen, von Frömmigkeit und Zechfestigkeit – eine Art irdischer Flirt mit der Unsterblichkeit. Weltweit eine wohl einmalige Dialektik.
Ut utrumque paratus – Zu beidem bereit
Selbst die würdigen Benediktinermönche vom Stift zu Engelberg machen Scherz und Schabernack ohne Scheu und Scham fröhlich mit. Seit 1641 gehört der Abt zur Ritterschaft des Unüberwindlichen Grossen Rates von Stans. Er wurde, wie es in den Akten heisst, in die „Grossmächtige Bruderschaft einverleibt“. Eine „alte, unverbrüchliche Treue“ verbindet darum den UGR mit dem Kloster „am End der Welt“. (2)
Für die alljährliche Korrespondenz mit dem Rat schuf das Stift Engelberg gar ein eigenes Siegel. Es zeigt einen heraldischen Löwen mit Schwert und Humpen und mit der Umschrift „Ut utrumque paratus“: zu beidem bereit – auch zum heiter-humorigen Wesen des UGR. Sein Grundsatz kommt nirgends besser zum Ausdruck als im Wappen aus dem Jahr 1597: Da sitzt der römische Weingott Bacchus, wohlgenährt und nackt, auf einem Weinfass, hält feines Essen in seinen Händen und lacht fröhlich in die Welt – allen Sorgen zum Trotz!
Frühe Frauenemanzipation im „Wiiberregiment“
Früh haben sich die Reichsfrauen im gespielten Scheinstaat des UGR eigene Rechte erstritten und sich von der Männerdominanz emanzipiert. Zu ihren Rechten gehört eine eigene Gerichtsbarkeit. So „[söllent] die felbaren den frauwen übergeben werden“, heisst es in den Akten. Selbst mit einem Landammann konnten die „frouwen […] handtlen oder procedieren wie Recht ist“.
Festgehalten sind diese Rechte des „wyblichen Regiments“ im sogenannten „Wiiberbrief“, einer wertvollen Pergamenturkunde von 1627. Da wird dem Mann eingebläut, was er untertänig den ganzen Tag erledigen müsse und wie er dabei „alle Husarbeit […] flissig zuo verrichten“ habe. (3) Selbst einen „Wiibervogt“ konnten sich die Frauen aus der Ritterschaft erbitten. Diese verbrieften Privilegien, natürlich fasnächtlich verklausuliert formuliert, stellen für die damalige Zeit eine volkskundliche Rarität dar.
Kirchliches und weltliches Wesen vereinen und ihm über alles Fasnächtlich-Verspielte hinaus eine Tiefe geben, das ist die Idee des „Unüberwindlichen Grossen Rats“ von Stans. Das utopische Grossreich bis ans End’ der Welt blieb bis heute unüberwunden. Für die 82 Reichsfrauen und die 68 Reichsritter ist es noch immer ein „Moratorium des Alltags“ (4) – nicht nur an Fasnacht.
(1) Man spricht in der historischen Forschung auch vom „Kolbenbannerzug“; vgl. Ernst Walder (1994), Stanser Verkommnis. Ein Kapitel eidgenössischer Geschichte neu untersucht. Stans: Paul von Matt AG, S. 13ff
(2) So heisst die Gegend im Horbis nordöstlich des Klosters Engelberg.
(3) Hans von Matt (1943), Der Unüberwindliche Grosse Rat von Stans, in: Innerschweizer Jahrbuch für Heimatkunde, VII. Bd. Luzern: Verlag Räber & Cie, S. 139
(4) Odo Marquard (1989), Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes, in: Walter Haug, Rainer Warning (Hg.), Das Fest; Poetik und Hermeneutik, Bd. 14. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 690