Nirgends in der Malerei ist das auf strengen Regeln beruhende Spiel der reinen Farben und Formen zu solcher Konsequenz getrieben wie bei den Zürcher Konkreten, deren Erbe das Museum Haus konstruktiv sich widmet. Innerhalb des Viergestirns Graeser, Lohse, Bill, Loewensberg sind es vor allem Richard Paul Lohse und Camille Graeser, die mit klaren, bis ins Detail verfolgbaren mathematischen Konstruktionen gearbeitet haben.
Camille Graeser
Dem ältesten der Vier, Camille Graeser (1892–1980), widmet das Haus konstruktiv gegenwärtig eine grosse Werkschau. Die Ausstellung zeigt ausführlich das Frühwerk des gelernten Schreiners, Möbeldesigners, Innenarchitekten, Grafikers, Malers und Plastikers. Mit klug gewählten Stücken veranschaulicht sie den künstlerischen Austausch mit Graesers Frau Emmy Graeser-Rauch und die Einflüsse etwa durch Arbeiten von Friedrich Vordemberge-Gildewart, Leo Leuppi, Maria Clara Friedrich, Sophie Taeuber-Arp und natürlich die anderen Zürcher Konkreten.
Prägenden Einfluss auf Graesers Entwicklung haben die russischen Suprematisten Kasimir Malewitsch, Wladimir Tatlin und El Lissitzky sowie die holländische De-Stijl-Bewegung. Hier ist es vor allem Piet Mondrian, an dem sich Graeser orientiert und dessen Kunst er durch Anwendung von Zahlenverhältnissen zu einer rein objektiven Form ohne Einwirkung von Intuition weiterentwickeln will.
Die fast hundert Arbeiten dokumentieren einen künstlerischen Weg, der folgerichtig vom Gestischen zur Konstruktion, vom Darstellenden zur Reduktion, vom Abbild zum sich selbst setzenden Bild und vom Physischen zum blossen Gedanken, zur Mathematik führt. Etwa ab 1950 herrschen in Graesers Bildern reine orthogonale Architekturen vor, oft in quadratischen Bildformaten. Jeder Punkt der Bildfläche ist gleich wichtig. Die Kompositionen gehorchen einem Set von Regeln, von denen Farben, Formen, Flächenverhältnisse und Bildaufbau bestimmt sind.
In der Ausführung sind der Pinselstrich, die malende Hand, ja überhaupt die Körperlichkeit des Künstlers vollständig abwesend. Zwischen dem mathematischen Gedanken und dem gemalten Bild soll kein Prozess des Umsetzens, Vermittelns, Herstellens stehen. Keine zur Schau gestellte Kunstfertigkeit soll ablenken von der reinen Idee. Der Betrachter soll nicht Malerei bestaunen, sondern mitdenken und die Konstruktion nachvollziehen – und so selbst zum Künstler werden.
Trotzdem ist da noch etwas anderes. Graesers Konstruktionen sind ja keine Denksport-Aufgaben, sondern eben Kunst, und das heisst: ästhetische Manifestationen. Sie berühren, bevor sie ein analytisches Betrachten auslösen, zuerst das Empfinden. Relationen von Flächen und Farben erzeugen Rhythmen und Zusammenklänge. Nicht zufällig drängen sich Begriffe der Musik auf, wenn man die Wirkung von Graesers Bildern zu beschreiben versucht. Der Künstler hat sich mit solchen Bezügen zur Tonkunst selbst eingehend befasst.
Auch ein poetisches Element ist den gleichermassen strengen und spielerischen Bildern eigen. Gedichte sind Sprachgebilde von klarer, auf Regeln basierender Form. Sie lösen die Wörter aus dem Gerede und Textschwall des Alltags heraus, legen sie unter das Vergrösserungsglas und rekombinieren sie zu etwas, das noch nicht gesagt wurde.
Graeser macht etwas Ähnliches: Seine reinfarbigen geometrischen Formen sind wie Elementarbestandteile des Malerischen, das er statt unter die Lupe unters Elektronenmikroskop gelegt hat. Was er dann beispielsweise mit dem Bildtitel «Exzentrische Konstruktion in drei Rhythmusgruppen» versieht, ist das Ergebnis eines regelhaften Spiels mit solchermassen isolierten Elementen. Dem Betrachter jedoch zeigt es sich zuerst als Bild gewordene Manifestation von Poesie. Deren mathematischen Aufbau erkennt er im Nachhinein als Überraschung und zusätzliches Entzücken.
Roman Clemens
Gleichzeitig mit der Graeser-Werkschau zeigt das Haus konstruktiv Arbeiten des Bauhaus-Schülers Roman Clemens (1910–1992) aus der eigenen Sammlung. Als wegweisender Bühnenbildner war er unter anderem von 1932 bis 1943 am Zürcher Stadttheater (heute Opernhaus) tätig. Seine lebenslange Auseinandersetzung mit Raumgestaltung ist im einstigen Kino Studio 4 in Zürich (heute Filmpodium) exemplarisch dokumentiert – mittlerweile mustergültig restauriert und denkmalgeschützt.
Ab Mitte der Fünfzigerjahre wendet sich Clemens ganz der Malerei zu. Obwohl er nicht zum Kern der Zürcher Konkreten gezählt wird, folgt er den gleichen Grundsätzen wie sie. Allerdings ist in seinen Arbeiten immer wieder der Bühnenbildner und Raumgestalter präsent, da seine Konstruktionen stets die dritte Dimension mitdenken und die Bilder eine räumliche Lesart oft nahelegen.
Roman Clemens ist als Maler und Gestalter kaum weniger bedeutend denn die als Zürcher Konkrete bezeichneten grossen Vier. Ihn jetzt neben dem berühmten Camille Graeser kennenlernen zu können, ist die grossartige Gelegenheit zu einer Entdeckung.
Was Clemens unter anderem auszeichnet, ist die methodische Exploration von Variationen seiner gestalterischen Ideen. Indem es grosse Teile des Nachlasses besitzt, kann das Haus konstruktiv das akribische Schaffen des Künstlers aufzeigen. So lohnt es sich denn unbedingt, den in Vitrinen ausgestellten Materialien die nötige Aufmerksamkeit zu geben.
Wie gut Roman Clemens als Maler ist und mit welch stupender Sicherheit er seine Motive im Raum inszeniert, zeigt eine Bildgruppe, die zu den Höhepunkten der jetzigen Schau zählt: Mit dem Triptychon «Hommage à l’espace», bestehend aus den Bildern «la naissance (genesis)», «la vie» und «la mort» (alle 1973) hat er ein packendes Meisterwerk geschaffen, das im Haus konstruktiv jetzt den gebührenden Auftritt bekommt.
Wie sich hier zeigt, verbindet sich bei Clemens auf eigenständige Weise das Szenografische mit dem Konstruktiven. Die drei Bilder sind auch einzeln gut; doch erst als räumlich präzis platzierte Gruppe entwickeln sie die Wucht eines grossen Wurfs. (Aus der kleinen fotografischen Wiedergabe erschliesst sich das nicht annähernd. Deshalb: Hingehen und im Original anschauen!)
Mit der Präsentation der Werkschauen von Camille Graeser und Roman Clemens bestätigt das Haus konstruktiv einmal mehr die Vitalität der konkret-konstruktiven Malerei. Sie hat seit dem letzten Jahrhundert zahlreiche Kunstrichtungen generiert und beeinflusst und lebt heute in verwandelter Form namentlich in der zum dominierenden Habitus gewordenen Konzeptkunst weiter. Ohne Kenntnis der mittlerweile historisch gewordenen «Konkreten» keine sachgerechte Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Positionen!
Museum Haus konstruktiv, Zürich:
Camille Graeser. Vom Werden eines konkreten Künstlers, kuratiert von Vera Hausdorff, Konservatorin der Camille Graeser Stiftung
100 Jahre Bauhaus: Werke von Roman Clemens aus der Sammlung, kuratiert von Sabine Schaschl, Evelyne Bucher und Eliza Lips
Zurich Art Prize 2019: Leonor Antunes – discrepancies with C. P., kuratiert von Sabine Schaschl
Alle Ausstellungen bis 12.1.2020