Die kurdischen Peschmerga haben sich in dem vergangenen Jahr als die wirksamsten Kämpfer gegen den Islamischen Staat (IS) erwiesen, die es im Irak und in Syrien gibt. Sie wurden dadurch die Hauptpartner "auf der Erde" für die amerikanischen Luftschläge gegen den IS. Doch nun zeichnen sich schwere Spannungen innerhalb der "Kurdischen Demokratischen Republik im Irak" ab, welche drohen, die politische Zukunft dieser Republik zu gefährden. Es handelt sich um das wichtigste und grösste Territorium, das je von Kurden selbst regiert worden war.
Amtszeitverlängerung des Präsidenten?
Der Streit unter den irakischen Kurden dreht sich darum, ob ihr bisheriger Präsident und wichtigster Führer im Amt bleiben soll oder nicht. Masoud Barzani, der Sohn des berühmten kurdischen Widerstandshelden, Mulla Mustafa Barzani, amtiert seit 2005 als der Präsident seines Landes beziehungsweise seines autonomen Territoriums. Er ist auch der Vorsitzende der grössten Partei der autonomen Kurdischen Republik und der ebenfalls historischen Kurdischen Demokratischen Partei (KDP), die sein Vater gegründet und geleitet hatte.
Rivalen "Gorran" und PUK
Doch das demokratische Kurdistan kennt zwei andere Parteien von Gewicht. Es gibt die ebenfalls seit dem Kampf der Kurden gegen den irakischen Staat bestehende Patriotische Union Kurdistans (PUK) und eine als Opposition zu den beiden traditionellen Parteien 2009 gegründete Linkspartei mit dem Namen "Gorran"(Wechsel). Gorran wurde in den Wahlen von 2013 die zweitstärkste Partei des Landes, und sie hat seither in einer Koalition zusammen mit der Partei Barzanis die Regierung gebildet.
Innerhalb dieser Koalition ist die Macht der Partei Barzanis überragend. Der Neffe Barzanis, Nachirvan Barzani, ist Ministerpräsident und dirigiert die Regierung. Sein Sohn, Masrur Barzani, ist Geheimdienstchef. Die Barzani-Familie gilt zudem als sehr reich, und ihre Kritiker betonen, dass die Trennungslinien zwischen den Geldern des Staates und jenen der führenden Familie durchlässig seien.
Auf ein Neues
Im Jahr 2013 wäre das Mandat des Präsidenten von zwei mal vier Jahren eigentlich endgültig ausgelaufen. Doch Masoud Barzani sorgte dafür, dass es um zwei Jahre verlängert wurde. Er begründete diese Ausnahmeregelung mit der besonders heiklen Lage, in der sich Kurdistan gegenüber dem IS und auch gegenüber Bagdad befand.
Am vergangenen 10. August ist nun diese Verlängerung ausgelaufen. Doch Masoud Barzani strebt im Einklang mit seiner Partei eine zweite Verlängerung an. Er kann anführen, dass die Lage von Kurdistan nach wie vor fragil und gefährlich ist, und seine Parteifunktionäre sowie er selbst sind der Ansicht, dass er nach wie vor eine unentbehrliche Führerrolle einnehme.
Parlamentsmehrheit gegen Barzani
Die beiden anderen grossen Parteien jedoch, die zusammen über mehr Abgeordnete im Parlament von Erbil verfügen als die KDP, sind gegen eine zweite Verlängerung. Die Sitzverteilung ist: 38 für die KDP; 24 für Gorran; 18 für PUK in einem Parlament von 111 Sitzen.
Die kurdischen Parteien haben unterschiedliche geographische Schwerpunkte. Die KDP dominiert den Norden. Barzani ist nicht nur ein Familienname, sondern auch der eines grossen kurdischen Stamms im Norden der kurdischen Republik. Die PUK hatte stets ihren Schwerpunkt in der südlichen Stadt Sulaimaniya, wo es mehr Industrie gibt, und Gorran ist ebenfalls am stärksten in Sulaimaniya.
Die Peschmerga bestehen aus Einheiten, in denen teils die PDK-Anhänger aus dem Stamm der Barzani überwiegen, teils die PUK-Partisanen aus Sulaimaniya und den südlichen Teilen Kurdistans. Zwischen ihnen bestehen zusätzliche Spannungen, besonders jene des innerkurdischen Krieges von 1992 bis 1996, in dem die Kämpfer des PUK und jene der PDK aufeinander stiessen.
Finanzkrise
Neben der ungelösten Frage der Präsidentschaft und gleichzeitig mit ihr gibt es zur Zeit schwerwiegende finanzielle Probleme. Sie gehen darauf zurück, dass der Ölpreis, die Haupteinnahmequelle des Iraks und auch Kurdistans, fast um die Hälfte gesunken ist. Doch auch der Streit um das irakische Erdöl und dessen Einnahmen zwischen Bagdad und Kurdistan trägt zu der gegenwärtigen Finanzkrise bei.
Kurdisches oder gesamtirakisches Erdöl?
Dieser inner-irakische Streit ist dadurch bedingt, dass der Irak entsprechend seiner Verfassung die Erdöleinnahmen des Staates an die verschiedenen Teile des Landes gemäss deren Bevölkerungszahlen verteilen sollte. Dies macht für Kurdistan etwa ein Viertel der irakischen Erdöleinnahmen aus. Doch Kurdistan hat - unter der Führung Masoud Barzanis - begonnen, sein eigenes Erdöl zu fördern, und hat mit mehreren internationalen Erdölfirmen zu diesem Zweck Verträge abgeschlossen.
Es wurde auch eine Pipeline gebaut, die kurdisches Erdöl über das Gebiet der Türkei nach dem Erdölhafen von Ceyhan exportiert. Bagdad protestiert gegen diesen "Erdölseparatismus" und versucht, gerichtlich gegen die mit den Kurden zusammenarbeitenden Erdölfirmen vorzugehen, weil nach der Ansicht des irakischen Erdölministeriums alles Erdöl unter seiner Leitung und Verantwortung gefördert werden sollte.
Eine offene Verfassung
Die geltende Verfassung des Iraks bestimmt, dass die Einzelheiten der Erdölförderung und ihrer Verteilung unter den Provinzen oder Gliedstaaten des Iraks von einer künftigen Verfassungsrevisionskommission, die das Parlament bestimmt, auszuhandeln seien. Diese Verfassung, die den ganzen delikaten und umstrittenen Komplex der Fragen des irakischen Föderalismus offen liess, war 2005 durch den Druck der amerikanischen Besatzungsbehörden entstanden, im wesentlichen, weil Präsident Bush gerade damals einen politischen Erfolg dringend benötigte. Es sollte allerdings nur ein Scheinerfolg werden.
Unklarheit über die Föderationsfragen
Bis heute sind alle Fragen betreffend möglicher Gliedstaaten des Iraks, daher auch betreffend ihrer Erdölrechte, aus politischen Gründen auf die lange Bank geschoben und nicht behandelt worden. Die politischen Gründe ergeben sich daraus, dass ohne die Mitwirkung der Kurdenparteien keine regierende Mehrheit in Bagdad zustande kam und dass die Kurden daher in der Lage sind, mit dem Zusammenbrechen der bestehenden Koalitionen in Bagdad für den Fall zu drohen, dass ihre Autonomieansprüche in der bisher noch immer offen gebliebenen Verfassung ignoriert werden sollten.
Keine Gelder aus Bagdad
Nach Jahren des Seilziehens und angesichts der knapper werdenden Erdölgelder hat das irakische Erdölministerium beschlossen, seine Zahlungen an die Kurden einzustellen, solange diese ihr eigenes Erdöl selbst fördern und selbst auf den Markt bringen. Das Einkommen jedoch, das die Kurden aus ihrem Erdöl bisher zu ziehen vermochten, ist geringer als jenes, das ihnen zuvor - in der Zeit hoher Erdölpreise - aus Bagdad zugeflossen ist.
All dies hat dazu geführt, dass Beamte in Kurdistan und sogar Kämpfer der kurdischen Truppen seit Wochen, manche sogar seit Monaten, ihre Löhne nicht mehr ausbezahlt erhielten. Unvermeidlicher Weise besteht dabei der Verdacht, dass die Freunde und Anhänger der mächtigsten Gruppe, jene der Barzanis - Stamm und Partei - dabei weniger zu leiden hätten als jene der Opposition in Südkurdistan.
Gewalttätige Demonstrationen im Süden
Diese Gesamtlage hat nun am vergangenen Wochenende zu Demonstrationen in Sulaimaniya und in anderen Ortschaften Kurdistans geführt. Gorran hatte zu ihnen aufgerufen. Die Demonstranten hatten zuerst die Bezahlung der ausgebliebenen Gehälter gefordert. Doch dann waren ihre Forderungen umgeschlagen in Demonstrationen gegen die KDP der Barzani und gegen das Vorhaben, Masoud Barzanis Mandat zum zweiten Mal zu verlängern. Lokale der KDP in den südlichen Landesteilen wurden angezündet. Zwei Personen verloren ihr Leben.
Aufenthaltsverbot in der Hauptstadt
Masoud Barzani und seine Partei reagierten darauf, indem sie am Montag den Ministern der Gorran-Partei, die im Rahmen der Koalition in der Hauptstadt Erbil ihre Funktionen ausüben, befahlen, aus Erbil abzureisen. Auch wurden die Büros des Fernsehsenders NRT in Erbil und in Dohuk geschlossen. Dieser Sender ist in Sulaimaniya zuhause und unterstützt die Politik von Gorran. Der Sohn des Präsidenten, Geheimdienstchef Masrur Barzani, beschuldigte Gorran, die Partei habe die Demonstrationen geplant und sei für die Gewaltausbrüche verantwortlich.
Hilfegesuch an die westlichen Mächte
Die Politiker von Gorran haben die Vertreter ausländischer Mächte aufgefordert, einzuschreiten und dafür zu sorgen, dass die kurdische Demokratie nicht zerstört wird. Diese Vertreter repräsentieren fast alle Mächte, die zur amerikanischen Koalition gegen den IS gehören und versuchen, in diesem Rahmen die Kurden in ihrem Kampf gegenden IS zu stützen. Deshalb besitzen sie politisches Gewicht in Erbil. Ob sie für eine Versöhnung der beiden feindlichen Fronten eintreten werden und ob sie eine solche bewirken können, bleibt zur Zeit offen.