Historisches im schon fast hysterischen Live-Stream. Wie weiter?
„Wir haben“, so der „Geliebte Führer“ Nordkoreas, „die Vergangenheit hinter uns gelassen und ein historisches Dokument unterzeichnet. Die Welt wird eine grosse Veränderung erleben.“ Kims neuer Freund, US-Präsident Donald Trump, liess sich nicht lumpen: „Die Vergangenheit muss nicht die Zukunft definieren …. Gegner und Feinde können Freunde werden.“ Trump fügte locker hinzu, dass „wir zwei uns noch oft begegnen werden“.
Wenig Konkretes
Die nur 400 Wörter umfassende Vereinbarung von Singapur enthält, wie praktisch alle Experten, Diplomaten und Kommentatoren in Ost und West feststellen, viel Allgemeines und wenig Konkretes. Doch bei der Interpretation gehen die Meinungen weit auseinander. Insgesamt eher negativ urteilen Fachleute und Medien im Westen. In Asien dagegen urteilt man pragmatischer und geht von einem längeren Prozess aus. Präsident Trump übrigens hat bereits eine Woche vor dem Gipfel von einem „längeren Prozess“ nach Singapur gesprochen. Das jedoch wurde in den westlichen Medien kaum erwähnt. Kein Wunder, denn es passt nicht in das übliche Trump-Bild eines narzisstisch getriebenen, egogesteuerten, völlig unvorhersehbaren Dealmakers Trump.
Flop?
„Der Raketenmann auf Selbstmordmission“, der „Wahnsinnige“ – so Trump über Kim im letzten Jahr – und der „geistig verwirrte senile Greis“, der „Gangster“ – so Kim über Trump 2017 – jedenfalls haben während ihres trotz Zeitmangels dennoch gut vorbereiteten Gipfels einen kaum vorhersehbaren Schritt getan. Der renommierte Nordkorea-Experte Andrei Lankow, er hat in Pjöngjang studiert und ist heute Professor in Soeul, kommt dennoch zu einem vernichtenden Urteil: „Wir hatten einen Flop erwartet, aber das ist noch ein grösserer Flop als alles, was wir uns ausgemalt haben.“ Konstruktiver reagiert Gastgeber Lee Hsien Loong, Singapurs Premierminister. Das Treffen Trump–Kim sei „eine entscheidende erste Begegnung auf der langen Reise hin zu einem nachhaltigen Frieden und Stabilität auf einer denuklearisierten Koreanischen Halbinsel“. Auch Südkoreas Präsident Moon Jae-in sieht den Singapur-Gipfel eher positiv. Er sei „erfreut“, und ähnlich wie Trump meint er, „es liegen wohl noch zahlreiche Schwierigkeiten vor uns“.
„Denuklearisierung“
Der Grund in der unterschiedlichen Beurteilung und der divergierenden Wahrnehmungen des Gipfel-Ergebnisses ist jener Teil der Vereinbarung, der sich mit der „Denuklearisierung“ beschäftigt. In dem von Kim und Trump im Scheinwerferlicht der Medien unterzeichneten Dokument heisst es: „Der Vorsitzende Kim Jong-un hat sein starkes und unerschütterliches Engagement für eine komplette Denuklearisierung der Koreanischen Halbinsel bestätigt.“ Wie bereits Trump im Gespräch mit Kim hat US-Aussenminister Mike Pompeo zwei Tage nach dem Gipfel dazu erneut eine „komplette, verifizierbare und unumkehrbare Denuklearisierung“ angemahnt.
1992, 1994, 2005
Der Abschnitt über Denuklearisierung in der Vereinbarung ist in der Tat nicht neu. Déjà-vu also? Ähnlich festgelegt hat sich Kim Jong-un nicht nur am 27. April beim Gipfel in Panmunjon mit Südkoreas Präsident Moon Jae-in. Bereits Kims Grossvater, der „Ewige Präsident“ und Staatengründer Kim Il-sung, hat sich 1992 in einer nordkoreanisch-amerikanischen Erklärung ähnlich geäussert, desgleichen in einem Rahmenabkommen von 1994. Kims Vater Kim Jong-il schliesslich hat sich 2005 in einem gemeinsamen Communiqué im Rahmen der Pekinger Sechsergespräche (China, USA, Russland, Japan, Nord- und Südkorea) für ein atomwaffenfreies Korea ausgesprochen. Diese Erklärungen sind jeweils ohne Folgen geblieben. Der Unterschied 2018 jedoch ist offensichtlich: Der Vorsitzende und der Präsident haben sich persönlich getroffen. Kim hat von Trump klare Worte gehört. Und umgekehrt. Keine schlechte Ausgangslage für den langen Weg zum wirklichen Frieden.
Dehnbarer Begriff
Nun ist Denuklearisierung ein dehnbarer Begriff. Die Frage ist beispielsweise, ob Nordkorea auch den amerikanischen Nuklearschirm zur Verteidigung Südkoreas bei einem Abkommen „denuklearisiert“ haben will. Wie viele westliche Nordkorea-Experten glaubt auch Andrei Lankow, dass Nordkorea niemals auf sein zwar kleines, aber existierendes Atomwaffenarsenal verzichten wird. Als Lebensversicherung sozusagen. Andere Militärexperten hingegen denken, dass schon die auf die südliche Millionenstadt Soeul gerichtete nordkoreanische Artillerie mehr als genug Abschreckungspotential darstelle. Dennoch glaubt Lankow, dass Kim Jong-un „alle Tricks nutzen wird, um die Nuklearwaffen nicht abzugeben. Das werden die Amerikaner aber erst in ein paar Jahren endgültig merken“.
Langer, mühsamer Weg
Sowohl Kim als auch Trump haben natürlich die in Singapur erzielte Vereinbarung über allen Klee gelobt. Ohne Gegenleistung, so die westliche Kritik an Trump, habe er unnötige Zugeständnisse gemacht. So hat Trump fürs erste die Routine-Manöver mit Südkorea im kommenden August ausgesetzt. Als vertrauensbildende Massnahme ist das vermutlich kein ungeschickter Schachzug. Trump hat allerdings klar gemacht, dass er zwar auf eine schnelle, überprüfbare und unumkehrbare Denuklearisierung hoffe, doch die Wirtschafts-Sanktionen bleiben bis zu nachweisbaren Resultaten in Kraft. „Ich freue mich“, so Trump, „die Sanktionen zu einem gewissen Zeitpunkt aufzuheben“, doch „werden wir vermutlich einen weiteren Gipfel benötigen“. Mit andern Worten, ein langer, mühsamer Schritt-für-Schritt- und Vertrauensbildungs-Prozess steht bevor. Doch gemessen an den letzten zwei Jahrzehnten ist Singapur 2018 ein signifikanter Schritt vorwärts.
Komplex
Die Öffentlichkeit erwartet im digitalen Zeitalter Schnelligkeit, also einen „Durchbruch“. Die Wirklichkeit kann das meist nicht liefern. Doch die Medien tun so, als ob das möglich wäre, ähnlich wie im Sport. Im Falle Nordkoreas und anderen komplexen Themen freilich ist Geduld gefordert. Nicht alles kann auch im digitalen Online emotionalisiert, personalisiert und vereinfacht werden. Ob der Gipfel in Singapur als „historisch“ bezeichnet werden kann, werden erst die kommenden Monate und Jahre zeigen. Jene Journalisten, TV- Moderatoren und Kommentatoren, die mit dem Adjektiv „historisch“ inflationär Unfug trieben, müssen sich daran gewöhnen, das komplexe Sachverhalte nicht wie Sportereignisse im Live-Stream abgehandelt werden können. Ein Schweizer Boulevard-Reporter brüstet sich sogar damit, in Singapur „Weltgeschichte“ beobachtet zu haben.
Smart brutal
Der junge Marschall Kim Jong-un hat zwar mit dem Auftritt in Singapur an der Seite von Trump internationales Renommée gewonnen. Doch Nordkorea bleibt vorläufig ein isolierter, totalitärer, militarisierter, stalinistischer und konfuzianischer Staat. Kim selbst wird von Nordkorea-Kenner Lankow im Unterschied zur Charakterisierung in westlichen Medien als realistisch, asiatisch-pragmatisch, smart, aber auch als brutal und ohne Skrupel beschrieben. Ein Friedensabkommen und eine Einigung für ein atomfreies Korea mit dem ehemaligen Erzfeind Amerika könnte schliesslich zur Wiedereingliederung Nordkoreas in die Weltwirtschaft führen. Das aber wird nach Ansicht der meisten Nordkorea-Experten mindestens zehn Jahre brauchen.
Status Quo
Die Verhandlungen werden deshalb kompliziert, weil der Status quo der koreanischen Halbinsel auf dem Spiele steht. Es sind also nicht nur Nordkorea und die USA betroffen, sondern zuvörderst auch China und Japan sowie am Rande auch Russland. Unter Kim Jong-un hat sich Nordkorea seit 2012 schon leicht geöffnet. Nolens volens, denn die Planwirtschaft ernährt das Volk nicht mehr. Märkte sind jetzt zwar geduldet, noch immer aber illegal. Eigentumsrechte gibt es noch nicht. Geld und Korruption prägen den sozialistischen Staat. Eine wirkliche Öffnung Nordkoreas – ähnlich wie jene Chinas und Vietnams in den 1980er Jahren – wird jedoch erst dann erfolgen, wenn sich Kim Jong-un und die nordkoreanische Elite nicht mehr bedroht fühlen. Und das wird eine Weile dauern.