Der Spartaner, so nennt der Ich-Erzähler seinen Freund, weil der «nichts konsumiert» und «das Bürgertheater» verachtet. Die beiden kennen sich von der Mittelschule. Die ganze Klasse hat nach der Matura während einiger Jahre den Kontakt behalten. Im «Mörder», der Bar des heruntergekommenen Hotels Exzelsior, treffen sie sich monatlich zur «Klunft», so des sprachschöpferischen Erzählers Wort für Klassenzusammenkunft. Wir sind in der juvenilen Welt einer Clique, die nicht so recht aus ihrer Schulzeit herauswachsen will.
Trauma des Erwachsenwerdens
Der Erzähler hält sich im «Hotel ohne Fenster» auf, einer psychiatrischen Privatklinik. Eine junge Ärztin führt mit ihm täglich Gespräche, die ein verdrängtes Trauma ans Licht bringen sollen. Bei der letzten Klunft im Mörder hat es Tote gegeben – was den Erzähler aus der Bahn warf. So glaubt er jedenfalls. Allerdings schützt er sich vorsorglich mit dem im Buch öfters wiederkehrenden Motto: Es gibt nicht eine Wahrheit, sondern hundert. Als die Ärztin ihn mit der Tatsache konfrontiert, dass es im Mörder kein Massaker gab, beginnt sein Widerstand zu bröckeln. Nun drängt sie ihn zur Wahrnehmung des wirklichen Grundes seines Zusammenbruchs.
Der Roman verharrt konsequent in der Perspektive des Erzählers und deckt die verdrängte Katastrophe nur andeutungsweise auf. Erinnerungen, Erlebnisse und Selbstwahrnehmung sind nur im Röhrenblick dieses Ichs verfügbar – eine mitunter beklemmende, zugleich aber mit Humor und Sarkasmus grundierte Sicht. Die ebenso verengte wie intensivierte Perspektive gibt der Darstellung genügend Kraft, um das Buch trotz der nicht ganz überzeugenden Story zu tragen und das Drama eines gescheiterten Erwachsenwerdens aufscheinen zu lassen.
Funkelnde Dialoge
Tom Zürcher gelingt mit der Stimme des Ich-Erzählers eine starke Personenzeichnung. Zu grossen Teilen besteht das Buch aus Dialogen, der Form also, die so manchen literarischen Text sich totlaufen lässt. Nicht so bei Tom Zürcher. Er ist ein exzellenter Dialogschreiber und lässt seinen Erzähler als abgefeimten Gesprächstaktiker agieren. In den Sitzungen mit der Ärztin zieht er alle Register, lässt es düster glimmen und erotisch schillern. Der Patient unterläuft die Therapie, dreht den Spiess um, flirtet, wird grob.
Als die Ärztin bei ihm offenkundig scheitert, übernimmt ihr Chef die Gespräche, was den Erzähler vollends zurück in die Rolle des renitenten Schülers treibt. Erst als man ihm «seine» Ärztin zurückgibt, spielt er wieder halbwegs mit. Allerdings muss er feststellen, dass sein Gegenüber nun, offensichtlich gestützt durch den im Hintergrund agierenden Chefarzt, mit grösserer Bestimmtheit auftritt und die Dinge in der Hand behält.
Tom Zürchers Buch besticht mit nerviger Sprache, funkelnden Dialogen und konsequenter Optik. Der Roman entlässt einen nie aus dem Erleben des Protagonisten. Einwenden kann man, dass das Buch nicht frei ist von Manierismen. Da gibt es in blosse Spiegelstriche aufgelöste Dialoge, sich in Texten ausbreitende typographische Lücken oder pennälerhafte Einfälle wie die Häppchen mit Exkrement-Aufstrich, die dem zum Apéro-Unternehmer gewordenen Schulkollegen untergejubelt werden. Solches kann damit zu tun haben, dass nicht nur der Exponent, sondern auch das Buch nicht erwachsen werden will.
Trotzdem, in «Der Spartaner» meldet sich ein literarisches Talent zu Wort, das Gehör verdient. Es ist auch vorstellbar, dass Tom Zürcher als Bühnenautor reüssieren würde. Seine fulminanten Dialoge haben das Zeug, Theater zu machen.
Tom Zürcher: Der Spartaner. Roman, Lenos Verlag, Basel 2016, 256 S.