Siegesfeier in Istanbul: Der türkische Langzeit-Präsident hat die Stichwahl um die Präsidentschaft gewonnen. Nach Auszählung von 99,85 Prozent aller Wahlzettel kommt Erdoğan auf 52,16 Prozent der Stimmen. Dies gibt die regierungsnahe türkische Nachrichtenangentur Anadolu bekannt.
Laut Anadolu hat Recep Tayyip Erdoğan rund 2,27 Millionen Stimmen mehr erhalten als sein Konkurrent, der sozialdemokratische Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu. Im Vergleich zum ersten Wahlgang vor zwei Wochen gewann Erdoğan 4,3 Prozent der Stimmen dazu. Für Kılıçdaroğlu stimmten diesmal 2,97 Prozent mehr Türkinnen und Türken. Erdoğan gewann in 52 der 81 türkischen Provinzen.
Der Präsident war als Favorit in diese Stichwahl gegangen. Er hatte im ersten Wahlgang vor zwei Wochen 4,6 Prozent mehr Stimmen erhalten als sein linksgerichteter Gegenkandidat Kemal Kılıçdaroğlu. In der Zwischenzeit hatte sich auch der rechtsextreme Ultranationalist Sinan Oğan auf die Seite Erdoğans gestellt. Oğans Splitterpartei hatte im ersten Wahlgang 5,17 Prozent der Stimmen erhalten.
Akt der Verzweiflung
Das Ergebnis zeigt, dass der letzte verzweifelte Versuch des Opposisionskandidaten, Kemal Kılıçdaroğlu, das Steuer doch noch herumzureissen, gescheitert ist. Kılıçdaroğlu hatte in einem Akt der Verzweiflung kurz vor der Wahl seine moralischen Prinzipien über Bord geworfen und sich den Rechtspopulisten und Ultranationalisten angebiedert. Er versprach, die in der Türkei sehr unbeliebten Flüchtlinge «innerhalb eines Jahres» aus dem Land auszuweisen und nach Hause zurückzuschicken.
In der Türkei leben sechs bis sieben Millionen Flüchtlinge, unter ihnen etwa 3,5 Millionen Syrer, sowie Afghanen, Pakistani, Iraner und Iraker. Laut Umfragen möchten 85 Prozent der Türkinnen und Türken die Flüchtlinge loswerden. Von dieser Anti-Flüchtlingsstimmung versuchte Kılıçdaroğlu zu profitieren – vergebens, wie sich jetzt zeigt.
Kılıçdaroğlu hatte bei der Stimmabgabe in Ankara erklärt: «Um die Unterdrückung und die autoritäre Führung loszuwerden, um echte Demokratie und Freiheit zu erlangen, rufe ich alle Bürger auf, wählen zu gehen und danach an den Wahlurnen zu bleiben, um Wahlmanipulationen zu verhindern.
Hauptthema der Wahlkämpfe war das wirtschaftliche Chaos, in das Erdoğan sein Land geführt hat. Der Lebensstandard der meisten Türkinnen und Türken ist in den letzten Jahren wegen seiner abenteuerlichen Wirtschaftspolitik deutlich gesunken. Die Preise steigen, die Inflation liegt bei 44 Prozent. Die Landeswährung Lira hat innerhalb von zwei Jahren 50 Prozent an Wert verloren.
Seine Macht liegt im tiefen Anatolien
Schon der erste Wahlgang hat gezeigt, dass die Nationalisten, Ultranationalisten und die konservativen gläubigen Muslime trotz Erdoğans deplorabler Wirtschaftspolitik zu ihm halten. Seine Machtbasis liegt vor allem im ärmeren, tiefen Anatolien. In den grossen Agglomerationen hingegen liegt die vorwiegend säkulare Opposition vorn. In den meisten grossen Städten hat Kılıçdaroğlu gesiegt, so in Istanbul (mit 51,6 Prozent), Ankara (mit 50,58 Prozent), Izmir (mit 66,86 Prozent), Adana (mit 53,73) und Antalya (mit 57,24 Prozent).
Geschadet hat Erdoğan auch nicht, dass er sich in seiner über zwanzigjährigen Herrschaft zu einem Quasi-Diktator entwickelt hat, die Demokratie aushöhlt, die Medien knebelt und Zehntausende ins Gefängnis warf. Selbst die dilettantisch organisierte Hilfe nach dem Erdbeben vom 6. Februar hat ihm kaum Stimmen gekostet.
Die Oppositionsparteien hatten eine Armee von etwa 400’000 Freiwilligen eingesetzt, um sicherzustellen, dass keine Wahlfälschungen stattfinden. Diese Frewilligen sind sowohl in den Wahllokalen als auch in der Wahlbehörde stationiert. Auch Anwälte wurden zur Überwachung aufgeboten.