Jetzt kommt doch noch Spannung auf: Während die Freunde von Präsident Erdoğan in den Strassen von Istanbul schon feiern, hat die Opposition nach dem dürftigen Abschneiden im ersten Wahlgang wieder Mut gefasst. Grund ist, dass der sozialdemokratische Oppositionskandidat plötzlich eine radikale, rechtspopulistische Position eingenommen hat. Er versprach jetzt, alle insgesamt etwa sechs Millionen Flüchtlinge im Land «innerhalb eines Jahres» auszuweisen. Nach Umfragen kommt das bei vielen Wählerinnen und Wählern gut an. Ob er damit Erdoğan vom Thron stürzen kann, erfahren wir Sonntagabend ab 19.00 Uhr Schweizer Zeit. Viele Politologen bezweifeln es.
Erdoğan hatte im ersten Wahlgang vor zwei Wochen 4,6 Prozent mehr Stimmen erhalten als der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu. Da sich in der Zwischenzeit auch der rechtsextreme Ultranationalist Sinan Oğan auf die Seite Erdoğans geschlagen hat, galt dessen Wahl vielen schon als sicher. Oğans Splitterpartei kam auf 5 Prozent der Stimmen.
Am Mittwoch nun trat Kılıçdaroğlu vier Stunden lang im YouTube-Kanal BaBaLa TV auf und beantwortete Fragen des Publikums. Die Sendung wurde 24 Millionen Mal angeklickt.
Um Stimmen der Nationalisten und Ultranationalisten zu erhalten, versuchte Kılıçdaroğlu nun Präsident Erdoğan rechts zu überholen. Einige Beobachter bezeichnen dies als «Akt der Verzweiflung». Der Oppositionskandidat versprach, nach seiner Wahl nicht nur alle 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge nach Hause zurückzuschicken, sondern auch die Afghanen, Pakistani, Iraner und Iraker.
In der Türkei leben insgesamt etwa sechs bis sieben Millionen Flüchtlinge. Sie sind im Land nicht willkommen. Laut Umfragen möchten 85 Prozent der Türkinnen und Türken die Flüchtlinge loshaben. Kılıçdaroğlu könnte jetzt im zweiten Wahlgang von dieser Stimmung profitieren. Bereits hat sich die fremdenfeindliche, rechtsextreme «Victory-Partei» von Ümit Özdağ auf die Seite von Kılıçdaroğlu geschlagen. Die «Victory-Partei» hatte über eine Million Stimmen erhalten.
Beobachter weisen darauf hin, dass rein logistisch eine sofortige Ausweisung von sechs bis sieben Millionen Flüchtlingen nicht möglich wäre.
Erdoğan reagierte nervös auf Kılıçdaroğlus Schwenk nach rechts. Er publizierte ein gefaktes Video, das beweisen soll, dass Kılıçdaroğlu mit den PKK-«Terroristen» zusammenarbeitet.
Ob die plötzliche fremdenfeindliche Haltung von Kılıçdaroğlu genügt, um die Wahlen zu gewinnen, muss sich zeigen. Mehre Politologen glauben nicht daran. Vor allem, weil auch Erdoğan immer wieder eine Ausweisung der Syrer verspricht. Die Gefahr für den Oppositionskandidaten besteht zudem, dass er gemässigte Wählerinnen und Wähler, die im ersten Wahlgang für ihn gestimmt hatten, wegen seiner plötzlich rechtspopulistischen Haltung verlieren könnte.