Es ist schon seltsam, wie’s manchmal so geht:
Seit Jahren gehört Jürg Kienberger zu den beliebtesten Künstlern auf der Bühne des Zürcher Schauspielhauses. Momentan steckt er in den allerletzten Proben der letzten Inszenierung von Barbara Frey: «Die Toten» von James Joyce. Es ist ihr Abschied als Intendantin von dieser Bühne, deren Chefin sie zehn Jahre lang war. Einmal noch, ein letztes Mal noch …
Für Jürg Kienberger dagegen ist es eine Premiere: Das erste Mal steht er unter der Regie von Barbara Frey auf der Pfauenbühne. Dabei würde sie doch so vieles verbinden, vor allem die Musik, die für beide so eine wichtige Rolle spielt.
Irgendwie hat sich’s nie ergeben.
Aber jetzt ist es soweit. Die Derniere der einen wird zur Premiere des anderen.
Kienberger ist ein Publikumsliebling. Egal, ob er in einem Stück auftritt, insbesondere in Inszenierungen von Christoph Marthaler, oder ob er in kleiner Besetzung mehr oder weniger als Alleinunterhalter auf der Bühne steht. Nicht als strahlender Held, sondern als stiller, etwas eigenbrötlerischer, ungelenker, aber durchweg sympathischer Querkopf, mit einem Hang zu schöner, melancholischer Musik auf dem Klavier, an der Handorgel, auf Gläsern oder neuerdings auf dem Hackbrett.
Im Grenzbereich
Ein enges Büro, in dem gerade nicht gearbeitet wird, aber in dem es wunderbar ruhig ist, steht uns zum Gespräch zur Verfügung. «Ja, jetzt gehöre ich zu diesen Zwischenmenschen im Zwischenreich», sagt Jürg Kienberger über seine Rolle in «Die Toten» nach James Joyce. «Man weiss nicht so recht, sind es schon Tote oder sind es noch Lebende … auch auf den Proben ist es schwierig.» Es geschieht so vieles im Dunklen, im Diffusen. Im Grenzbereich. «Das ist sehr anspruchsvoll und es dauert, bis es klappt. Man kann sich im Dunklen wegmogeln und dann taucht an anderer Stelle wieder ein Grüppchen auf», sagt er freundlich lächelnd. Und: «Das wird schön!»
«Die Toten» ist ein Text aus der Sammlung von Erzählungen, die Joyce unter dem Titel «Dubliners» herausgegeben hat. «Das ist die Ausgangslage. Aber Barbara Frey hat vorher auch den ganzen ‘Ulysses’ gelesen», sagte Kienberger mit echter Bewunderung, da das Buch als fast unlesbar gilt. «Barbara hat sich da richtig reingekniet und nicht mehr aufgehört zu lesen ... ich selbst habe das noch nicht geschafft, aber ‘Ulysses’ lag auch schon bei mir zuhause, noch bevor Barbara mich für ‘Die Toten’ angefragt hatte.» Und irgendwie wird «Ulysses» seine Spuren auch in Barbara Freys «Toten» hinterlassen.
Jürg Kienberger wird aber nicht nur einer dieser Zwischenmenschen im Zwischenreich sein, sondern sich auch um die musikalische Gestaltung des Abends kümmern. Wie geht er da vor? Komponiert er die Musik zuhause? «Also, ich bin ein reagierender Mensch, der einen Anstupser braucht, den ich dann mit meiner Phantasie bereichere. Ich lasse mich gern von anderen inspirieren. In diesem Fall auch von Barbara, die immer schon so viel weiss, bevor es überhaupt losgeht, und die so viele Musikideen hat. Das geht in unserer Inszenierung bis hin zu Songs von Leonard Cohen. Ich muss da gar nicht bei null anfangen.»
Joyce und das Hackbrett
Wobei Jürg Kienberger hier eher tiefstapelt, denn natürlich hat er sich vorher auch schon Gedanken zur Musik gemacht. «Ich wusste, dass unser Team eine singfreudige Truppe sein wird, dass das Singen also eine grosse Rolle spielt. Ich habe auch das Hackbrett vorgeschlagen. Für meinen Zwingli-Abend, mit dem ich zurzeit auch noch unterwegs bin, habe ich das extra lernen müssen. Zu Joyce passt das Hackbrett. Es liegt etwas Keltisches darin, und Joyce hat ja auch lange in der Schweiz gelebt. Das Hackbrett verbindet gewissermassen Irland und die Schweiz über die Musik.»
So versucht Kienberger, auch die Geräusche, die schon bei Joyce im Text vorkommen, musikalisch umzusetzen. «Joyce ist voll auf die Ohren fixiert», sagt Kienberger, der seinerseits betont, dass Musik aber auch etwas fürs Auge ist. Kienberger, der als jüngstes Kind der Hoteliersfamilie im Hotel «Waldhaus» in Sils Maria aufgewachsen ist, hat sich schon früh für die drei Musiker interessiert, die dort am Nachmittag und Abend aufspielten. «Ich habe sie beim Spielen beobachtet, gleichzeitig aber auch die Gäste in der Hotelhalle. Ich glaube, schon damals bin ich darauf gekommen, dass Musikmachen auch eine starke optische Wirkung hat. Dieser Gedanke hat mich seither begleitet und das ist mein Beruf geworden: Musik fürs Auge.»
Musik fürs Auge ist wohl auch der Grundgedanke in den Programmen, die Kienberger allein oder mit wenigen Partnern gestaltet. Ob das nun der «Spaziergang» von Robert Walser ist oder «eingerockt+ausgesungen», ein fiktiver Blick in die musikalische Jugend von Ulrich Zwingli oder «Novecento», die Legende eines Ozeanpianisten … Egal, Kienberger stellt immer eine Figur dar, die, sagen wir mal so: etwas speziell ist, etwas schräg, ein bisschen eigen, eher schüchtern, gelenkig und mit einer gewitzten Biederkeit. «Gewitzte Biederkeit», wiederholt Kienberger meine Beschreibung seiner Auftritte … setzt ein Fragezeichen dahinter, lächelt, und sagt dann: «... ja …» Und diese Biederkeit ist vielleicht auch der Aspekt, den das Publikum bei sich selbst wiederentdeckt und über den es nicht nur klammheimlich, sondern in gemeinsamer Selbsterkenntnis lachen darf.
«Ja, Humor ist ein grosses Thema», sagt Jürg Kienberger.
Und Humor ist auch ein ernstes Thema.
«Die Toten» nach James Joyce
Schauspielhaus Zürich
Premiere: 16. Mai 2019