Im Wallis ist alles ein bisschen anders. Auch beim Musikfestival.
«Bach» steht auf dem Programm. Johann Sebastian, mit Stücken aus dem Klavierbüchlein für Sohn Wilhelm Friedemann und aus dem Notenbüchlein für Ehefrau Anna Magdalena Bach. Klingt gesittet und brav. Auf dem Programm stehen aber auch Avi Avital, der israelische Mandolinenvirtuose und Maurice Steger, der Schweizer Flötist. Klingt immer noch gesittet. Hinzu kommen Laute, Cembalo und Viola da Gamba.
«Als ich noch jung war …» beginnt Avi Avital seine kleine Einführung, aber was er sagen wollte, geht in der allgemeinen Heiterkeit beim Publikum unter, denn alt ist dieser Avi Avital natürlich auch heute noch nicht …
Dann geht’s los. Und im Handumdrehen mutiert das Barock-Ensemble zu einer Rock-Band des 17. Jahrhunderts. Das fetzt und fegt und Maurice Steger lupft es fast vom Boden, das trillert und jubiliert mit kräftigem Rhythmus auch auf der Mandoline, und das Publikum wippt voller Begeisterung gleich mit. Tosender Applaus, als wär’ man bei den Rolling Stones.
Aber das ist Verbier und wir sitzen in der Kirche. Und die Musiker haben nichts anderes als Bach gespielt. Note für Note. So kann der alte Meister eben auch klingen: Freestyle mit den richtigen Musikern in einer barocken Jam-Session.
Freiheit geniessen
Direkt am Weg liegt Verbier nicht. Man muss schon hinwollen, um hinzukommen. Ein Nachteil ist das nicht, denn viele nehmen den Weg gern auf sich. Insbesondere auch Weltstars der klassischen Musik, die hier oben Freiheiten geniessen, die «normale» Konzerte nicht bieten können. Zum Beispiel mal ausprobieren, wie man mit anderen Stars musikalisch harmoniert. Oder auch Stücke spielen, die gar nicht ins Repertoire gehören oder eben doch Stücke aus dem Repertoire, aber mal ganz anders, vor allem frecher interpretieren.
Diese Gelegenheit nimmt auch Jakub Józef Orlinski wahr, der junge polnische Shootingstar unter den Countertenören. Erst singt er Purcell und Händel, hinreissend und mitreissend, dann erzählt er dem Publikum von neuen polnischen Komponisten, schaut jeder einzelnen Zuschauerin tief in die Augen und kündigt dann fast schon verschwörerisch an, dass dies nun eine Weltpremiere sei, denn was er nun singen werde, sei nicht für Countertenöre geschrieben, ein Augenzwinkern, und wir lassen uns auf polnische Gesänge ein … Am Schluss: Jubel. Was sonst?
«Ja, das ist das Schöne an Verbier», sagt Martin Engstroem, der Intendant des Festivals. «Hier sind alle sehr locker und offen und die Künstler trauen sich, interpretatorisch etwas weiter zu gehen, und dies vielleicht sogar mit Kollegen, mit denen sie noch nie auf der Bühne standen. Da hilft es wahrscheinlich auch, dass ich zu allen eine enge Beziehung habe und ihnen Sicherheit und Rückendeckung gebe.»
So hätten die beiden Piano-Superstars Andras Schiff und Evgeny Kissin gemeinsam auftreten sollen. Man war gespannt. Covid beim einen und Schmerzen im Arm beim anderen haben dann allerdings einen Strich durch die Rechnung gemacht … Als Zuschauer konnte Kissin stattdessen seinem Kollegen Mikhaïl Pletnev zuhören, der Chopin spielte. Hingebungsvoll und magisch. Einspringer sind in Verbier sofort zur Stelle.
Der Fall Gergiev
Einer hingegen konnte nicht im Handumdrehen ersetzt werden: Valery Gergiev. Der russische Dirigent war Musikdirektor des Verbier Festival Orchesters. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine war für Gergiev die Arbeit mit dem Jugendorchester beendet.
«Also ich habe mich damals miserabel gefühlt», sagt Engstroem. «Gergiev ist ein lieber Freund von mir, den ich schon lange kenne, und er ist einer der grössten Dirigenten heutzutage. Er hat hier mit Musikstudenten gearbeitet und sich viel Zeit für sie genommen. Sein Einsatz hier in Verbier war enorm und er war ein guter, charismatischer Lehrer.» Dies sei die Gefühlsebene, betont Engstroem. «In der Realität war es natürlich unmöglich, mit Gergiev weiterzumachen. Innerhalb von zwei, drei Tagen und vielen Telefongesprächen haben wir entschieden, abzubrechen.» Und wie reagierte Gergiev? «Er hat es verstanden, wir waren ja nicht die einzigen. Am Sonntag, also drei Tage nach Kriegsbeginn, ist er nach Russland zurückgekehrt.»
Für Engstroem war es hart, dass dieses Orchester mit hervorragenden jungen Musikern aus aller Welt plötzlich ohne Leitung dastand. Aber zwei andere Stardirigenten haben seither in Verbier mit den jungen Leuten gearbeitet: Simon Rattle und Kent Nagano. Besseren «Ersatz» hätte man sich kaum wünschen können … Und Valery Gergiev kümmert sich nun um seine 5000 Angestellten des Mariinsky Theaters, das mittlerweile neben St. Petersburg auch Ableger in Wladiwostok und Wladikawaks (Nordossetien) besitzt.
Auch ohne Valery Gergiev läuft das Verbier-Festival auf Hochtouren. Von der Masterclass am Morgen über Matineen und Nachmittagsveranstaltungen in der Kirche bis zum Hauptkonzert auf der grossen Bühne und vielen Extras nebenher. Und ganz ohne Probleme ist Gianandrea Noseda in Verbier dabei. Seit letzter Saison ist er Generalmusikdirektor am Zürcher Opernhaus, aber seit 2007 kommt er alle zwei Jahre nach Verbier und dirigiert das junge Orchester.
Biker, Deltasegler und Mozart
Seit fast dreissig Jahren gibt es nun das Verbier Festival, hoch oben in den Walliser Bergen, knapp unter der Waldgrenze und mit grandioser Sicht auf die auch im Hochsommer schneebedeckten Viertausender. Im Winter ein Skiparadies, im Sommer Anziehungspunkt für tollkühne Biker im abenteuerlichen, fast ausserirdisch wirkenden Outfit auf schweren Hightech-Rädern. Und am Himmel Delta-Segler. Freestyle auch hier. Dazwischen Mozart, Beethoven, Schubert, Bach …
Und wie ist diese Wohngemeinschaft der Extreme zwischen Sport-Freaks und Klassik-Fans in Verbier entstanden? «Es gibt fünf Festivals auf der Welt, die so wie Verbier sind», sagt Martin Engstroem. «Das Schleswig-Holstein-Festival, das Pacific Music Festival in Sapporo, Tanglewood und Aspen in den USA. Sie alle basieren auf Workshops, auf jungen Studenten und Jugendorchestern. Hier in Verbier ist es vielleicht noch konzentrierter. Wir haben rund 300 Jugendliche zwischen 13 und 30, die hier studieren, wir haben drei Orchester und daneben das Festival mit den grossen Stars. Diese Mischung ist unsere Stärke.»
Entstanden ist die Idee noch in Paris, wo Engstroem mit seinem Partner eine Agentur gegründet hat, die sich auf Sänger und Dirigenten spezialisiert hatte. Nach zwölf Jahren ist Engstroem aber mit der Familie von Paris nach Verbier umgezogen, um ein eigenes Festival aufzubauen. «Das Vorbild war Aspen/Colorado. In den 60er- bis 80er-Jahren war dort der Sammelpunkt von allen, die in den USA einen Namen hatten. Da unterrichteten Leontyne Price, YoYo Ma, Lynn Harrol und so weiter ... man traf sich hier im Sommer.»
«Aber in Verbier so etwas aufzubauen, an einem Ort, der auch schwierig zu erreichen ist, das ist doch mutig», sage ich Martin Engstroem. Er lacht. «Ich würde sagen, es war nicht mutig, es war dumm …! Es gab damals keinen Saal, keine Proberäume, alles war kompliziert. Aber wenn man einmal hier ist – als Publikum, aber auch als Künstler –, muss man sagen: Es hat was! Verbier liegt auf einem Plateau, es ist sonnig, es ist sehr offen, es ist diese grosszügige Weite, die zur Magie dieses Ortes gehört. Das hat mich gepackt!»
Neues Image für Verbier
Auch die Gemeinde Verbier hatte Interesse an Engstroems Projekt. Es ging darum, neben dem Ski-Winter auch eine Sommersaison aufzubauen. «Damals war im Sommer wirklich niemand hier, ein paar Bergsteiger vielleicht, aber keiner ging ins Hotel oder Restaurant.» Ausserdem wollte man dem Namen Verbier ein neues Image verpassen. «Ich bin Schwede und als ich jung war, galt Verbier bei den Skandinaviern und Engländern als der billigste Skiort Europas», sagt er. «Du konntest für zweimal nichts von Stockholm nach Verbier reisen, ein Zimmer nehmen und eine Skikarte bekommen. Das Niveau war damals wirklich sehr tief, das hat man auch den Gebäuden angesehen … Die Gemeinde wollte das Gesicht Verbiers komplett verändern – und das haben wir geschafft! Chaletbesitzer sind statt nur im Winter nun wegen der klassischen Musik auch im Sommer gekommen und sehr, sehr viele Neue noch dazu.» Und auch der Ort sieht heute nobler aus mit seinen gepflegten Chalets in dunklem Holz und schön gepflasterten Strassen.
Kein Motto fürs Festival
Im Gegensatz zu anderen Festivals verzichtet Martin Engstroem in Verbier darauf, die Konzerte unter ein bestimmtes Motto zu stellen. «Ich glaube, diese Themengebung ist etwas sehr Deutsches … Im französischen Raum macht man das selten. Ich möchte mich thematisch auch nicht binden. Ein Thema engt ein. Vielleicht ist es einfacher, ein Festival unter einem Motto zu verkaufen. ‘Liebe’, ah, man spricht und singt und schreibt über Liebe … Aber ich nehme lieber einen anderen Weg.» Und wie führt dieser Weg, ganz ohne Wegweiser, schliesslich zu einem Programm? «Da richte ich mich ganz nach den Künstlern», sagt Engstroem. «Weil ich die Künstler, die hierherkommen, seit eh und je kenne, weiss ich auch, was oder mit wem sie gern spielen oder etwas ausprobieren möchten. Martha Argerich zum Beispiel mit James Levine, mit Kissin, Nigel Kennedy, Thibaudet, Bronfman … eine ganze Liste grosser Namen, mit denen sie noch nie zu tun gehabt hatte. Aber weil ich Martha Argerich seit über 50 Jahren gut kenne, vertraut sie mir und hat mitgemacht. Das ist diese Stärke von Verbier, dass Künstler hier bereit sind, einen Schritt mehr zu wagen, so nach dem Motto: Wenn der eine oder die andere diesen Schritt macht, kannst du das auch. In Salzburg oder Luzern geht man als Künstler auf Nummer sicher und vermeidet jedes Risiko. Hier in Verbier ist alles Risiko, ein riesiger Workshop – auch für die grossen Stars.»
Wenn er könnte, wie er wollte, was würde Martin Engstroem sich dann wünschen?
«Dann wäre ich gern ein zweiter Martin Engstroem, der in den Konzerten sitzt und die Musik und all diese Programme geniesst, die ich gestaltet habe! Ich renne ja den ganzen Tag herum und höre fast nie ein Konzert vom Anfang bis zum Ende … alle wollen etwas von mir. Aber zum Glück habe ich gute Gene und bin nicht leicht gestresst.» Sagt’s und ist schon wieder unterwegs.