Die korrekte Antwort lautete: «Den linken Fuss.» Gemeint war die Statue Zwinglis, in Bronze gegossen, posierend vor der Wasserkirche Zürichs, den Blick Richtung «katholische Innerschweiz» gerichtet, das Schwert in der Hand und – tatsächlich – den linken Fuss unter dem Talar hervorstellend.
Was feiern wir?
Heute, über 40 Jahre später, feiert Zürich die 500-jährige Reformation, und auch wir Katholikinnen und Katholiken werden zum Feiern eingeladen. Doch was feiern wir eigentlich? Eine Kirchenspaltung, welche zu schmerzhaften Auseinandersetzungen geführt hat, bei denen auf reformierter und auf katholischer Seite Verletzungen zurückgeblieben sind – bis heute? Das Überwinden einer «gottlosen» Zeit, in welcher Menschen auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder im Fluss ertränkt wurden, einer Zeit, in welcher eine versoffene und ungebildete Elite unschuldige Menschen ausbeutete? Das Besiegen einer Zeit, in welcher Gier, Hass oder Zwang die gesellschaftliche Norm bedeuteten?
Rechtzeitig zum Jubiläum entstand der Film «Zwingli» von Stefan Haupt, der aktuell in den Kinos zu sehen ist. Der Film zeigt anschaulich, mit welcher Motivation Zwingli die Kirche reformieren wollte. Unter dem bekannten Motto «Tut um Gottes Willen etwas Tapferes» wollte er die Menschen von Zwängen befreien, indem er den Ablasshandel bekämpfte, die Bibel auf Deutsch übersetzen liess, die Aufhebung des Fastengebots unterstützte oder das Abhängen der Bilder in den Kirchen verlangte. Der Mensch soll frei sein und das Wort Gottes aus erster Hand erfahren. Der Film bewegt.
Zwischentöne
Auch die Historikerin Christ-von Wedel gibt dem Werk auf ref.ch gute Noten, sofern es von Zuschauern betrachtet werde, welche sich bisher nicht mit der Reformation befasst haben. Ansonsten sei er ihr zu plakativ: «Es gab ungebildete, verhurte und versoffene Priester. Deshalb war der Antiklerikalismus so stark. Aber das traf längst nicht auf alle Geistlichen zu. Nehmen wir die drei altgläubigen Hauptfiguren im Film, den Bischof, den Generalvikar Johann Fabri und den Chorherrn Konrad Hofmann. Sie alle waren humanistisch hochgebildet. Und alle drei förderten Zwingli zunächst. Sie wünschten sich eine Reform der Kirche, aber ohne Kirchenspaltung. Fabri zum Beispiel war sehr enttäuscht, als die Entwicklung schliesslich entglitt. Diese Zwischentöne gehen unter.»
Ich meine, wir sollten das Jubiläum, die Feier, zum Anlass nehmen, um diese Zwischentöne, also die Reform der Kirchen ohne Kirchenspaltung, wirklich umzusetzen und um neue Zwischentöne zu hören, unabhängig unserer Herkunft, Religion oder Kultur.
Wenn das Reformationsjubiläum einen Sinn haben soll, dann kann es nur darum gehen, dass wir unsren Blick eine Stufe höher ansetzen: dass wir nicht stehen bleiben beim «Bildnis», welches wir uns voneinander machen. Die einen von den Reformierten, die andern von den Katholiken, Juden, Muslimen oder Konfessionslosen. Wenn wir das Bilderverbot ernst nehmen, dann richten wir den Blick nicht auf das Trennende, sondern auf die wichtigen Fragen unserer gemeinsamen Existenz.
Gegen Grausamkeit
Wenn das Reformationsjubiläum einen Sinn haben soll, dann muss es letztendlich darum gehen, nicht stehen zu bleiben beim Verurteilen von Ritualen oder Symbolen verschiedener Religionen oder Kulturen. Ein Kreuz, ein Kopftuch, eine Taufe oder das Feiern des Laubhüttenfestes: Rituale und Symbole sind Lebenshilfen, doch niemals dürfen sie zum Ursprung eines Krieges werden. Vielmehr muss es uns darum gehen, die Kirchenspaltungen und die Religionskriege zu überwinden und Kriege oder Konflikte zu verhindern. Wer weiss, vielleicht erkennen wir plötzlich in uns fremden Ritualen neue Hilfsmittel?
Wenn das Reformationsjubiläum einen Sinn haben soll, dann werden wir letztendlich dazu aufgefordert, Grausamkeiten wie das Tyrannisieren von unschuldigen Menschen durch korrupte Eliten zu verhindern oder das Ausüben der Todesstrafe durch Scheiterhaufen, Ertränken oder moderner Methoden weiter zu stoppen. Weltweit gibt es hierzu noch viel zu tun. Dagegen gilt es vorzugehen. Gemeinsam.
Der Grundauftrag
Zimi ist längst verstorben. Doch Zwinglis Statute wird noch lange den linken Fuss «vorstellen» und sie wird noch lange an den Sonderbundskrieg erinnern, auch wenn die Zürcher Protestanten nicht mehr in der Mehrheit sind, genauso wenig wie die Zürcher Katholiken. Es sind die Konfessionslosen, welche heute die grösste gemessene Gruppe darstellen.
Eine Episode des Films «Zwingli» hat mich persönlich nachhaltig geprägt: In einer Szene gehen die feinen Herren der Kirche in einer Prozession in prunkvoller Kleidung und mit Schmuck behängt durch die Gassen Zürichs. Dabei wird uns gezeigt, wie die Bettler am Rande der Strasse heftig weggetrieben werden, um den Umzug nicht zu stören. Das Bild der Christen, welche vergessen haben, ihrem Grundauftrag nachzukommen, sich um die Schwächsten der Gesellschaft zu kümmern.
Die Szene hat mich deshalb tief getroffen, weil es doch – wenn wir ehrlich sind – heute nicht viel anders ist als damals: Unabhängig davon, ob wir in der Innerschweiz an einer Prozession oder in Zürich am Sechseläutenumzug teilnehmen: überall zelebrieren sich gut betuchte Menschen, welche sich darauf verlassen, dass die Helfer der Prozession dafür sorgen, die Bettler am Rande der Strasse oder der Gesellschaft aus dem Sichtfeld zu vertreiben. Heute wie damals.
Wahre Bilder Gottes
Wollen wir hierzu in Zwinglis Sinne handeln, dann kümmern wir uns, heute und in Zukunft, persönlich und mit Demut um die Bettler und die Benachteiligten unserer Gesellschaft, dann lassen wir sie vor unsere Augen führen, denn sie sind nach Zwingli die «wahren Bilder Gottes»:
„Ist es umb des geltes willen ze thuon, so ist es der recht uppig bapstbschiß, damitt man die narren umb die müler salbet, das sy gold und gelt gebind, das er damit die mulesel mit syden und gold beschleuffe. Welchs aber wir den dürfftigen bilden gottes, den armen menschen, geben soltend, so henckend wir’s an des menschen bildnus; denn die götzen sind bildnussen des menschen, aber der mensch ist ein bildnus gottes.“ (Zwingli, IV, 107f.)
Gelingt und dies zusammen, so tun wir «um Gottes Willen etwas Tapferes».