Kinderärzte sind Seismographen jugendlicher Nöte. Kinder, die den Ansprüchen von Eltern und Schule nicht genügen, «geraten unter Druck und erschienen früher oder später mit psychosomatischen Beschwerden in unserer Sprechstunde», schreibt der St. Galler Pädiater Arnold Bächler. Und der Präsident des Vereins Ostschweizer Kinderärzte, Andreas Würmli, verweist auf die Auswirkungen neuer Lehr- und Lernmethoden, wie das selbständige Lernen, oder die zunehmende Ökonomisierung des Unterrichtsalltags. Pädiater seien in ihrem Praxis- und Klinikalltag mit vielen Schulproblemen konfrontiert. Zu den Folgen zählten beispielsweise Bauchschmerzen, Übelkeit bis zum Erbrechen, Kopfweh und Schlafstörungen – oder auch das Phänomen der Unterrichtsvermeidung und der Schulverweigerung
Digitalisierung aus pädagogischer und soziologischer Perspektive
«Pädiatrie, Schule und Gesellschaft» heisst darum ein vielbesuchtes Vortragsforum in St. Gallen. Verantwortlich zeichnet Prof. Jürg Barben, Leitender Arzt am Ostschweizer Kinderspital St. Gallen. Kinderheilkunde, Erziehungsberatung und Pädagogik seien über viele Fragen und Probleme miteinander verbunden, sagt Barben und fügt bei: «Eltern erhoffen sich vom Kinderarzt oft auch pädagogischen Rat.» Aus dem breiten Themenfeld von Schule und Pädiatrie gestaltet er ein anspruchsvolles Vortragsprogramm mit namhaften Referentinnen und bekannten Wissenschaftlern. Das Forum stösst auf grosse Resonanz. [i]
«Digitalisierung von Schule und Alltag – ein zweischneidiges Schwert» – diesem Thema waren die beiden Referate von Mitte März gewidmet. Der Hintergrund: Smartphone und Computer haben innert kurzer Zeit fast jeden Haushalt erreicht. Gleichzeitig brachte die Corona-Pandemie dem Bildungssystem einen ungeahnten digitalen Schub – für viele so etwas wie eine Bildungsrevolution. Die Digitalisierung eröffnet neue Perspektiven; doch sie birgt auch Fallstricke in sich. Was dieser radikale digitale Wandel für Lehrerinnen und Lehrer, für Jugendliche und ihre Eltern bedeutet, danach fragten die beiden Referenten Prof. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik, und Rüdiger Maas, Generationenforscher und Sachbuchautor, beide aus Augsburg.
Intensiver digitaler Konsum
Bekannt geworden ist Rüdiger Maas mit seinem Spiegel-Bestseller «Generation lebensunfähig: Wie unsere Kinder um ihre Zukunft gebracht werden». Mit dem alarmistischen Titel wolle er wachrütteln, denn die Forschungsergebnisse seien beunruhigend, so der Psychologe Maas. Sechs Prozent der sechs- bis siebenjährigen Kinder in Deutschland besässen bereits ein eigenes Smartphone; in der Altersgruppe der Acht- bis Neunjährigen seien es 33 Prozent. Das Spielen mit dem Smartphone nähme mittlerweile den ersten Platz unter den Aktivitäten der 6- bis 13-jährigen Kinder ein. Viele Jugendliche verbrächten zwischen vier bis acht Stunden täglich im Netz – in der Corona-Pandemie gar bis zehn; manche sähen ihre Freunde mehr online als analog.
Der enorme digitale Konsum zeitigt Folgen. Dazu zählen zum Beispiel die Internetsucht und eine vermehrte soziale Isolation, die Abnahme von Kreativität und Empathie fürs Gegenüber sowie der Fähigkeit, geduldig auf etwas zu warten und auszuharren. Viele Kinder könnten kaum mehr vertieft spielen, diagnostizieren Maas und sein Forscherteam, die Aufmerksamkeitsspanne würde spürbar kleiner, die Unselbständigkeit nähme zu.
Überbehütet im analogen Alltag – allein in der digitalen Welt
Und noch etwas bereitet den Wissenschaftlern Sorge: Viele heutige Eltern sehen sich als Freunde ihrer Kinder; sie räumen ihnen in der analogen Welt fast jeden Stein aus dem Weg; so steige der Verwöhnungsgrad – doch glücklicher würden die Kinder dadurch nicht. Im Gegenteil. «Wir erziehen eine Generation von unglücklichen Kindern», mahnt Maas. Jedes vierte Kind in Deutschland zeige depressive Symptome.
Zwei Phänomene stünden sich diametral gegenüber: In der Parallelwelt des Internets mit Smartphone und Co. seien viele Jugendliche sich selbst überlassen – stundenlang, in der realen Welt aber meist überbehütet, «überprotektioniert», wie Maas es ausdrückt. Diese Diskrepanz dürfe nicht sein. Wichtig seien klare Grenzen und Strukturen. Dazu gehören beispielsweise Rituale wie das Vorlesen am Abend. Und natürlich die Konversation von Angesicht zu Angesicht; Online-Chats böten nur eine rudimentäre, eindimensionale Form von Verbindung.
Bildung ist ein sozialer Prozess
Diese digitale Welt forcieren auch Schulen. «Schulen werden digital aufgerüstet», heisst es. Die Rede ist von einer millionenschweren IT-Offensive. [ii] Die Sprache zeigt sich militant. Und an die gewaltigen Investitionen sind grosse Erwartungen geknüpft. Doch was ist das teure Geld wirklich wert? Die Corona-Krise mit dem digitalen Schub habe eines ganz deutlich gezeigt: Lernen als Wissensaneignung könne man auch vor dem Bildschirm. Doch echte Bildung bedürfe der Begegnung. Davon ist Klaus Zierer, einer der führenden Hattie-Experten, zutiefst überzeugt. Bildung ist für ihn nicht gleichzusetzen mit Lernen. Bildung ist ein sozialer Prozess.
Alle zentralen Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung deuten in diese Richtung: Die digitale Technik allein wird Lernen nicht revolutionieren. Das schaffte kein Medium in der Geschichte, weder die Wandtafel noch der Hellraumprojektor, auch nicht der Computer, nicht das Tablet und nicht das Smartphone. Technik braucht immer den Menschen, um wirken zu können. Pädagogik komme eben vor Technik, so Zierer. Darum könne der Ort der Bildung nicht das Medium sein; der Ort der Bildung sei in der Interaktion zwischen Menschen zu finden.
Lernwirksamkeit von digital gestütztem Lehren und Lernen
Das alles hat der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie gründlich erforscht und dabei auch das Lernen 4.0 analysiert. Den durchschnittlichen Effekt aller Einflussgrössen auf die Schülerleistung berechnet er mit einem Kennwert von d = 0.4. Fernunterricht erreicht lediglich den bescheidenen Effektwert von 0.13. Die Laptop-Einzelnutzung kommt auf einen Wirkwert von d = 0.16 [iii]; sie bleibt damit deutlich unter dem Umschlagpunkt von 0.4. Die Digitalisierung selbst weist einen Gesamteffekt von 0.26 auf. Als Vergleich dazu nannte Zierer den allgemeinen Effektwert des Feedbacks von 0.51. Individuelles Feedback in Form von Ermutigung, gekoppelt mit Hinweisen auf die nächsten Lernschritte, erreicht gar eine Grösse von 0.92.
Das zeige, wie wichtig die persönliche Beziehung im Klassenzimmer sei und wie entscheidend die Interaktion über intensive Gespräche und Rückmeldungen, betonte Zierer. Basis eines guten Unterrichts bilde die Haltung der Lehrerin, des Lehrers; sie sei das Grundlegende für eine Kultur des Vertrauens und des Zutrauens. Doch das alles lasse sich in Virtual-Reality-Welten nicht umsetzen. Das Humane lässt sich eben nicht digitalisieren.
[i] Das vierteilige Jahresprogramm 2022: https://www.kispisg.ch/downloads/news/2022/sup_uebersicht_2022.pdf
[ii] St. Galler Tagblatt, 15.07.2021 bzw. 23.02.2022
[iii] John Hattie & Klaus Zierer (2018): Visible Learning. Auf den Punkt gebracht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 208f.