«Wenn es ernst wird, muss man lügen.» Für diese wahre Aussage muss man dem luxemburgischen Premierminister und zugleich Vorsitzenden der Euro-Gruppe Jean-Claude Juncker danken. Ist schon ein Weilchen her, dass ihm dieser Satz bei einer Podiumsveranstaltung herausrutschte.
Das EU-Prinzip
Noch etwas älter, aber noch besser ist dieses Juncker-Zitat aus einem «Spiegel»-Interview von 1999: «Wir beschliessen etwas, stellen es dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob etwas passiert. Wenn es dann kein grosses Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.» Aber diese beiden Aussagen widerspiegeln nur das völlig normale Selbstverständnis von Politikern. Handwerk, Alltag, nichts Besonderes.
Das Unmögliche
Fatal ist aber eine andere Eigenschaft, die unabdingbar mit der Ausübung von politischen Funktionen verknüpft ist: die völlige Unfähigkeit zum Zweifeln. Lügen, betrügen, sich diametral widersprechen, völlig entgegengesetzte Aussagen mit dem Politikerwort zusossen: «Ich habe schon immer gesagt», auch das ist politisches Handwerk. Allerhöchstens und in letzter Not ergänzt um den Satz: «Aus heutiger Sicht mag meine frühere Aussage, die aufgrund der damaligen Faktenlage völlig richtig war, in einem anderen Licht erscheinen.» Aber all das kann ein Politiker nur durchhalten, wenn er niemals auch nur den leisesten Zweifel daran verspürt, dass er alles sowohl damals wie heute richtig macht.
Die Probe aufs Exempel
Kann sich jemand daran erinnern, einen Politiker jemals sagen gehört zu haben: «Ich weiss es nicht. Ich zweifle, ob ich für diese Entscheidung sein soll oder dagegen. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber ich muss gestehen: Ich habe keine Ahnung.» Niemals, denn das wäre nicht nur politischer Selbstmord, sondern der Ausdruck von Entscheidungsunfähigkeit, das pure Gegenteil von: «Ich habe alles im Griff, ich weiss, was richtig ist, man muss mich nur machen lassen. Mir nach, folgt mir, wählt mich, ihr habt Fragen, ich habe Antworten. Denn ich weiss doch, was ich tue.»
Pfeifen im Wald
Die Eurokraten haben im heraufziehenden Sturm des selbstverschuldeten Euro-Desasters einen neuen Begriff in die Debatte eingeführt, der an Perversität nicht zu überbieten ist. Mag sein, dass ihr Handeln jeder demokratischen Legitimierung entbehrt. Mag sein, dass sie vor lauter Gewurstel, Rettungsschirmen, Wortbrüchen völlig den Überblick verloren haben. Mag sein, dass sie offenkundig bei ihrer wichtigsten Aufgabe, das Wohlergehen ihrer Staatsbürger zu befördern, komplett versagt haben. Mag sein, dass sie sogar zukünftigen Generationen Schuldenlasten aufgebürdet haben, für die man sie im Grab verfluchen wird. Mag alles sein, aber: ihr Handeln ist alternativlos. Weil sie selbst an seiner Richtigkeit nicht zweifeln können, erklären sie jeden Zweifel für falsch. Für den Ausdruck von Unverständnis, Unfähigkeit, Verantwortungslosigkeit, Dummheit. Wie eine Monstranz tragen sie das Wort «alternativlos» vor sich her.
Kommt einem bekannt vor
Hatten wir das nicht schon mal? Nein, die Kirche musste ihren Anspruch auf alternativlose und zweifelsfreie Richtigkeit ihrer Dogmen schon längst aufgeben. Zumindest die christliche. Aber gab es nicht die kommunistische Partei mit ihren von Brecht besungenen tausend Augen? Wer könnte es wagen, an deren überlegener Weisheit zu zweifeln, wo sie doch mit der geballten Intelligenz der Besten und Begabtesten die unbezweifelbar richtigen Entscheidungen trifft? Die alternativlos sind, wenn es um die Beförderung des Wohlstands, um das Erreichen einer paradiesischen Zukunft geht. Natürlich, dafür muss zuerst ein Tal der Tränen durchschritten werden, es gibt viele Widerstände, unvorhersehbare Rückschläge. Zweifelnde Kleingeister mögen das für die Auswirkungen von falschen Entscheidungen halten. Aber wir lassen uns doch nicht von solchen Dummköpfen vom alternativlos richtigen Weg abbringen.
Dogmen zerbrechen
Wenn wir etwas aus der Geschichte lernen können: Umso starrer Dogmen werden, umso mehr Gewalt oder Druck zu ihrer Verteidigung aufgewendet wird, umso schriller Zweifler zur Raison gerufen werden, umso zweifelsfreier die Alternativlosigkeit des einzig richtigen Weges beschworen wird, umso näher sind wir am Ende des Dogmas. Und am Anfang des Zusammenbruchs. Das gilt selbstverständlich auch für die Euro-Zone. Nur sind wir dort schon mittendrin.