Ein guter Teil der «classe politique» der Schweiz fährt unsere Europapolitik an die Wand. Entgegen dem Willen einer, leider schweigenden, Mehrheit. Die robuste schweizerische Zivilgesellschaft ist aufgerufen, Gegensteuer zu geben.
Bundespräsident Cassis hat eine Rote Linie gezogen. «Es wird keinen Rahmenvertrag 2.0 geben», hat er im Albisgüetli vor dem versammelten harten Kern der national-populistischen SVP verkündet. Ausgerechnet der Freisinnige Cassis, dessen Partei von der SVP über die letzten Jahrzehnte weg aus der führenden Rolle der bürgerlichen Schweiz verdrängt worden ist.
Und ausgerechnet im Albisgüetli, dem weltanschaulichen, jährlichen Rütlischwur jenen Teils der SVP, welcher unter dem politischen und finanziellen Diktat des Milliardären-Trios Blocher-Frey-Tettamanti den Rest der schweizerischen Partei ihrem nationalkonservativen Diktat unterworfen hat.
Die zweite Rote Linie
In ihren Äusserungen zum Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU sind sowohl «Brüssel» als auch die Vertreter der EU-Mitgliedsländer seit langem klar: Ohne generelle Einigung über die Form der künftigen Beziehungen zwischen Europa, also der EU, und der Schweiz wird es auch keine Verhandlungen über den Inhalt geben. Entweder dies oder den Abstieg der Schweiz in die zweite Liga von europäischen Randstaaten, den sogenannten «Drittstaaten». Unwürdig einer Schweiz, welche von Geschichte, Sprache und Kultur her ein europäisches Kernland ist.
Diese zeitlich klar ältere Rote Linie ist unverrückbar. Einmal weil genau dies die Schweiz einst von ihrer Seite her vorgeschlagen hat: Anstatt langwierigen Verhandlungen in den verschiedensten Bereichen, wo aber institutionell ähnliche Regeln gelten, ein Dach, welches ohnehin für alle gilt, gelten muss, welche am gemeinsamen Markt, am gemeinsamen europäischen Werk teilnehmen.
Und das will eine klare Mehrheit von Schweizerinnen und Schweizer. Jene, welche nicht im Muota- oder Simmental von subventionierter Landschaftspflege, sondern in und um die urbanen Zentren leben. Und von blühendem Wirtschafts- und Nachbarverkehr mit der uns umgebenden EU abhängen.
Klare Mehrheiten für die damaligen bilateralen Abkommen als Notpflaster auf die schwärende Wunde der Ablehnung des EWR. Klare Mehrheiten gegen nationalistische Begrenzungs- und andere Initiativen der SVP seither. Schliesslich die rund zwei Drittel in der Schweiz, welche vor dem Verhandlungsabbruch durch die Landesregierung einen Rahmenvertrag befürwortet hatten. Eine unüberlegte Kurzschlussentscheidung des Bundesrates, der sich offensichtlich einschüchtern liess von, mit viel Geld von Finanzinteressen von rechter, und unnötigem Alarmismus von linker Seite verursachtem National-Gepolter.
Die Welt dreht sich
Die Zeit der komfortablen Existenz der Schweiz mit den Vorteilen der bilateralen Abkommen, also dem Mitmachen wie und wo es uns passt, ist um. Heute kann sich das immer politischere, unter Zwang immer einheitlicher auftretende Europa keine Trittbrettfahrer mehr leisten. Wie die Verhandlungen der bis zum Schluss geeinten EU mit dem Brexit-England des Politclowns Boris Johnson gezeigt haben.
Verantwortlich dafür sind globale geopolitische Umschichtungen. Das immer dreistere Auftreten des revanchistischen Russlands von Putin, der Weltgeltungsanspruch eines autoritären Kapitalismus von China unter Xi-Jinping. Und in den letzten Jahren auch der Schatten einer USA unter der Fuchtel eines undemokratischen Alleinherrschers.
Russland stellt Europa auf die Probe mit der Bedrohung der trotz Oligarchentum letztlich demokratischen Ukraine. China bedrängt das EU-Mitglied Litauen wegen eines nichtigen Anlasses – Eröffnung eines Verbindungsbüros von Taiwan in Vilnius; solche Büros befinden sich in zahlreichen Hauptstädten der Welt so auch in Bern – in einer Art und Weise, die über alles hinausgeht, was die Uno gegen die illegale Nuklearschwellenmacht Iran je verhängt hat. Und hat damit Erfolg. Volkswagen verlangt von Vilnius den Kniefall vor Beijing, sonst würden Produktions- und Lieferketten aus Litauen abgezogen.
Das sind heute die echten Herausforderungen für Europa, also die EU. Diese Herausforderungen stellen sich der Schweiz als europäischem Land übrigens genau gleich. Ein von Putin mutwillig losgetretener Konflikt an der Ostgrenze Europas wird auch unsere Energieversorgung treffen. Westliche Ermahnungen und Massnahmen wegen krassen Verletzungen von Menschenrechten und Wirtschaftsregeln durch China und die darauf folgenden, grobschlächtigen Gegenschläge Beijings können schon morgen auch schweizerische Interessen treffen.
Spiel auf Zeit
Dies scheint die politische Schweiz nicht wahrhaben zu wollen. Im Verhältnis zur EU wird auf Zeit gespielt. Dass dies die grundsätzlich auslandfeindliche SVP tut, erstaunt nicht. Unverständlicher sind Verlautbarungen aus der Mitte des politischen Spektrums. «Die Mitte» und die FDP, beide heute stramm konservativ geführt und damit nur sporadisch eine Alternative zur SVP bietend, glauben, dass eine wirtschaftlich starke Schweiz, was auch die EU-Mitglieder anerkennen würden, sich Zeit nehmen könne, weiterhin ein europäisches «pick-and-choose»-Menü auszuwählen.
Die Grünen starten ein Referendum gegen Frontex, zu dem die Schweiz als Schengenland finanziell beitragen muss. Wollen diese Guten denn letztlich den Austritt der Schweiz aus der europäischen Personenfreizügigkeit? Frontex ist heute ein unverzichtbarer Teil von Schengen. Ohne Schutz der gemeinsamen Aussengrenze ist kein gemeinsamer Personenmarkt möglich. Ohne Beiträge keine Teilnahme. Zudem: Ohne Frontex würden nationale Grenzschützer unbehelligt von Brüssel vorgehen können, kaum rücksichtsvoller als eine zentral geleitete und überwachte Behörde.
Von der SP schliesslich ist ausser grossen Worten und der Einsetzung von Arbeitsgruppen keine vorbehaltlose Bejahung des europäischen Erbes der Schweiz zu hören. Wie gerne würde man von den zwei Regierungsmitgliedern, neben ihren zahllosen Auftritten als Fachminister und Fachministerinnen, eine staatspolitische Antwort auf das Euro-Bashing von rechts hören. So etwa eine Entgegnung auf die eingangs erwähnte, offensichtlich wahltaktisch bedingte Anbiederung des Bundespräsidenten im Albisgüetli
Das Zeitspiel ist aus
Wenn die Schweiz nicht anerkennen will, dass die Zeit heute, und nicht morgen, gekommen ist zur klaren Regelung unseres Verhältnisses zur EU, sieht unsere europäische Zukunft düster aus. Wirtschaftlich, politisch und weltanschaulich.
Und ausgerechnet diesen Zeitpunkt wählt unser aller Bundespräsident, vor dem konservativsten Teil der Schweiz Rote Linien zu ziehen, von der er, und eine Mehrheit im Lande genau wissen, dass sie nicht eingehalten werden können. Dass sich die politische Schweiz im Zeichen eines unter internationalem Druck zusammenrückenden Europas – der Europakommentator der «Financial Times» Martin Sandbu spricht von einer «pan-European public sphere» – weiter von unserem Heimatkontinent entfernt anstatt umgekehrt, ist ebenso unerklärlich wie unverzeihlich. Die schweizerische «public sphere», also die hiesige, ja durchaus robuste Zivilgesellschaft ist aufgerufen, Gegensteuer zu geben.