Der Tahrir-Platz ist wieder von Tausenden von Demonstranten besetzt. Sie haben gelobt, nicht wegzugehen, bevor jene bestraft werden, die während der ersten Phase der Revolution 8‘000 Demonstranten getötet und weitere 6‘000 verwundet haben. Auch in Alexandria und in Suez sowie in anderen Städten kam es zu Grossdemonstrationen. Die Polizei schritt nicht ein. Doch was sie tun wird, wenn die Demonstrationen andauern und Protestlager errichtet werden, bleibt abzuwarten. Vielleicht rechnet die Polizei damit, dass die Manifestanten bald Ermüdungserscheinungen zeigen.
"Bestrafung der Schuldigen"
Die Demonstranten fordern auch die Bestrafung von Mubarak und verantwortlichen Polizeikräften. In den letzten Wochen war klar geworden, dass die versprochenen und begonnenen Prozesse gegen die Schuldigen verzögert werden.
Einzig einer der Polizisten, die angeklagt waren, Demonstranten erschossen zu haben, war verurteilt worden – und das in absentia. Die Untersuchung gegen Mubarak und seine Familie hatte begonnen, doch keine gerichtliche Anklage ist bisher formuliert worden. In Suez wurden zehn Polizisten, die angeklagt waren, Demonstranten getötet zu haben, gegen Kaution freigelassen. Dies hatte heftige Unruhen in Kairo und Suez ausgelöst.
Der Eindruck war entstanden, die militärischen Machthaber des Höchsten Militärrates versuchten, eine Abrechnung mit der Vergangenheit dadurch zu umgehen, dass sie dem Wunsch der Bevölkerung elastisch nachgaben, aber dann dafür sorgten, dass die Gerichte die Prozesse verzögerten.
Anderseits wurden Revolutionsaktivisten, die der Armee missfielen, vor ein Militärgericht gestellt. Ohne dass sie sich richtig verteidigen konnten, wurden sie in zwanzig Minuten abgeurteilt.
Wiederbelebung der Revolution
Doch es geht jetzt nicht darum, jene zu bestrafen, die Demonstranten getötet und verletzt haben. Die Manifestanten fürchten, dass ihre Bewegung verpufft. Nichts habe sich wirklich geändert mit dem Fall Mubaraks, erklärten ihre Sprecher. Denn seine Freunde und Anhänger seien noch immer an der Macht. Der ganze Staatsapparat sei mit ihnen durchsetzt.
Vereinzelt wurde jetzt gar ein Sturz Tantawis gefordert. Tantawi ist der Oberbefehlshaber der Armee und Vorsitzender des Höchsten Militärrates. Er war jahrelang Verteidigungsminister Mubaraks, kam dann aber den Demonstranten entgegen. Viele vermuten, er könnte sich jetzt selbst gefährdet oder kompromittiert sehen, wenn Mubarak sein Tun und Lassen vor den Richtern erklären muss.
Vom Verbündeten zum Widersacher
Als Mubarak fiel, applaudierten die Revolutionäre der Armee und huldigten ihren Führern. Diese gelobten, bald Demokratie einzuführen. Doch in der Zwischenzeit hat sich das Verhältnis zwischen Armee und Demonstranten verschlechtert. Die jetzt begonnene zweite Welle der Demonstrationen ist deutlich gegen die Armeeführung gerichtet.
Wo stehen die Muslimbrüder?
Die Muslimbrüder hatten sich zuerst geweigert, bei der angekündigten neuen Demonstration mitzuwirken. Doch am Mittwoch änderten sie ihre Meinung und liessen mitteilen, auch sie stünden hinter den Demonstrationen. Sie begründeten ihren Gesinnungswechsel offiziell damit, dass die Gesetze befolgt werden müssten. Sie stünden hinter dem Recht. Doch in den Kulissen erfährt man, der Wechsel sei unter dem Druck der jungen Garde der Organisation erfolgt. Diese hatte schon zur Zeit Mubaraks für eine Teilnahme an den Demonstrationen gekämpft. Die Weisung ihrer Führung, nicht an den Manifestationen teilzunehmen, hatten sie ignoriert.
Doch bei den jetzigen Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz gibt es zwei Rednertribünen, eine für die säkularen Revolutionäre und eine der Muslimbrüder.
Die Muslimbrüder haben sich hinter den schnellen Fahrplan der Armeeführung gestellt, der schon auf Ende September Parlamentswahlen vorsieht. Die Revolutionsgruppen waren für ein langsameres Vorgehen eingetreten. Sie hatten aber das Plebiszit vom 18. März verloren. Dieses hatte die Armeeführung organisiert und sieht eine schnelle Verfassungsreform vor.
Ende der Revolution durch die Wahlen?
Seither fürchten die Revolutionsagitatoren immer mehr, dass diese Wahlen eine Fortsetzung des alten Regimes hinter einer demokratisch dekorierten Fassade bringen könnten.
Die Demonstranten sind zwar noch in der Lage, grosse Massen zu mobilisieren, wie diese zweite Revolutionswelle zeigt. Mühe haben sie jedoch, rasch eine schlagfertige politische Partei zu organisieren, die eine demokratische Umgestaltung der ägyptischen Gesellschaft zum Ziel hat und die angekündigten Wahlen gewinnen könnte.
Revolutionäre gegen Armeeführung
Mit der neuen Demonstrationswelle ist das Terrain für das nächste politische Ringen in Ägypten abgesteckt. Es wird sich zwischen der Armeeführung und den Trägern des Umsturzes gegen Mubarak abspielen.
Die Armeeführung verfügt über die Macht der Gewehre. Doch sie hat eine entscheidende Schwäche: Sie ist nicht sicher, ob die unteren Ränge der Soldaten und Offiziere ihr im Falle einer blutigen Konfrontation mit der ägyptischen Bevölkerung, der die Soldaten und Offiziere selbst angehören, folgen würden.
Die Revolutionsgruppen haben ihrerseits viele Schwächen: geringe Einigkeit, kaum Organisation, Emotionalität, keine Waffen und keine militärische Ausbildung - und sie haben nur eine Stärke: ihre Fähigkeit, grosse Massen von Ägyptern zu mobilisieren und zu motivieren.
Der Ausgang des nun eingeleiteten Ringens wird letzten Endes davon abhängen, ob und wie lange die Revolutionsgruppen durchhalten können.
Beide Seiten müssen ihre künftige Strategie erst noch festlegen. Möglicherweise werden beide weiterhin versuchen, heftige Zusammenstösse zu vermeiden. Die Militärs könnten in kleinen Schritten die Hauptbeweger der Demonstrationen gefangen nehmen. Das haben sie bisher mehrmals getan.
Für die Demonstranten kommt es nun darauf an, zu verhindern, dass ihre Bewegung abklingt und ermüdet. Sie müssen dann dafür zu sorgen, dass ihre Bewegung neue Anführer hervorbringt, um die ausgeschalteten zu ersetzen.