Der erste Versuch ist fehlgeschlagen. - Warum? Weil die Verwicklungen während der zweieinhalb Jahre dieses ersten Versuches bewirkt haben, dass nicht eine Politik des Konsenses geführt wurde, sondern eine nach dem Prinzip: "der Gewinner nimmt alles."
Die Muslim Brüder hauptverantwortlich
Dem Gewinner, das heisst den Muslimbrüdern, ist wohl die Hauptschuld zuzuweisen. Sie waren die Gewinner der Wahlen, doch sie verstanden diesen Gewinn als eine Berechtigung dafür, Ägypten nach ihrem Ermessen und ihren Vorstellungen entsprechend umzubauen.
Dies konnte nicht funktionieren, weil ungefähr die Hälfte der Ägypter mit diesen Vorstellungen nicht übereinstimmten. Doch diese andere Hälfte kann man auch nicht von Schuld freisprechen. Sie weigerte sich, die Regeln des demokratischen Spiels einzuhalten, weil sie das Spiel als gefälscht ansah. Sie zog es vor, auf die Strasse zu gehen, um den Staat und seine Wirtschaft soweit zu blockieren, dass sich zum Schluss die Militärs veranlasst sahen, erneut einzuschreiten und den "Reset-Knopf" zu drücken.
Die Offiziere, Inizianten des Fehlschlags
Die Militärs kann man auch nicht von Verantwortung freisprechen. Unter ihrer Oberaufsicht wurde der erste, nun beendete Demokratisierungsversuch begonnen, und er begann so, dass die Kommandomentalität der früheren militärischen Machthaber die Entwicklung bestimmte. Oberkommandant Tantawi stellte sich selbst an die Spitze des Staates. Er sagte zwar, dass sei nur "vorübergehend". Aber er blieb zu lange und das mit einer Energie, die bei den zivilen Machtaspiranten die Befürchtung weckte, sie könnten ausgeschaltet und übergangen werden.
Misstrauen an Stelle von Zusammenarbeit
Die ersten von ihnen, denen es Kraft ihrer besseren Organisation gelungen war, die Wahlen zu gewinnen, das heisst den Muslimbrüdern, wurde dadurch der Entschluss aufgedrängt, sie müssten sich mit allen verfügbaren Mitteln an der Macht halten und befestigen, wenn sie nicht wieder in den politischen Untergrund getrieben werden wollten.
Dies führte sie zu ihrem ersten verhängnisvollen Entscheid, ihre früheren Versprechen zurückzunehmen, die gelautet hatten, sie wollten den anderen Kräften Mitspracherechte einräumen. Die andere Hälfte der Gesellschaft begann zu fürchten, sie werde ihrerseits von den Brüdern permanent ausgeschlossen, und sie sah immer mehr Symptome dafür, dass die Bruderschaft unter Mursi den Weg der Ausschliesslichkeit systematisch weiterging. Dies gab ihren Protesten die Dringlichkeit.
Weil die Wirtschaftlage und die um sich greifende Unsicherheit auf den Strassen immer mehr Ägyptern des Leben beinahe unerträglich machte, gewann die protestierende Hälfte der ägyptischen Gesellschaft rasch ein Übergewicht. Sie wurde zur protestierenden grossen Mehrheit.
Neue Spielansätze ?
Nun geht es darum, im zweiten Durchgang die Fehler zu vermeiden, die den ersten Demokratisierungsversuch abgewürgt haben. Die Militärs haben gezeigt, dass sie etwas begriffen haben. Diesmal haben sie es vermieden, sich selbst an die Spitze zu stellen. Sie haben den Präsidenten des Obersten Verfassungsgerichtes, Adil Mansour, vorgeschoben. Er soll nun provisorisch die Macht des Präsidenten übernehmen, und er erhielt auch die Vollmacht "Verfassungsdeklarationen" zu erlassen. Das heisst die umstrittene und nun suspendierte Verfassung "der Muslimbrüder", zu revidieren.
Eine Technokratenregierung "aller Ausrichtungen" soll ernannt werden, um das Land zunächst zu regieren und die neuen Präsidenten- und Parlamentswahlen vorzubereiten. Bis diese organisiert und durchgeführt sein werden, dürfte möglicherweise ein Jahr vergehen.
Die Armee im Hintergrund
Eine offizielle staatspolitische Rolle für die Armee ist nicht vorgesehen. Doch de facto hat sie die Macht in der Hand und zeigt dies auch auf den Strassen. Die Gundfrage ist nun: Kann diesmal vermieden werden, dass das politische Spiel erneut eines wird, in dem der Sieger alles bestimmt? Oder kann sich der Staat diesmal so organisieren, dass der Wahlsieger zwar regiert, aber unter Berücksichtigung der Grund- und Mitspracherechte jener, die sich nicht an der Macht befinden?
Drei Hauptkräfte, Gleichgewicht oder Vormacht?
Dies wird schwerfallen. Die ägyptische Gesellschaft ist nun, durch die anderthalb Jahre der bitteren Kämpfe noch mehr als zuvor, stark polarisiert. Es gibt den Pol der Muslime, von denen zweifellos eine grosse Masse weiterhin danach streben wird, dass die Schari'a im ägyptischen Staat soweit irgend möglich "verwirklicht" werde.
Es gibt die "Aufgeklärten" im europäischen Sinn, die nach europäischen Vorbildern Staat und Religion soweit wie möglich auseinander halten wollen.
Es gibt auch - heute wieder im Zenith der Macht - die Armee als Dritte Kraft. Was sie gegenwärtig anstrebt, dürfte sein: die Erhaltung ihrer wirtschaftlichen und politischen Privilegien innerhalb des ägyptischen Staates und gleichzeitig eine zivile politische Führung, die das Land ruhig hält, wirtschaftlich wieder belebt und - womöglich - ein harmonisches Zusammenleben der Gesellschaft herbeiführt. Man kann sagen: die Armee hat erkannt, dass der Gans, welche die goldenen Eier legt - das ägyptischen Volk - nicht der Hals abgedreht werden darf, wenn die Armee, die von den goldenen Eiern lebt, weiter existieren soll.
Regeneration von Vertrauen?
Doch die Verwirklichung dieser Ziele wird schwierig werden. Wie kann man die bitter zerstrittenen gesellschaftlichen Kräfte dazu bringen, vertrauensvoll zusammenzuarbeiten? Ganz ohne Zwang wird das nicht abgehen. Die Armee wird versucht sein, die Köpfe jener zusammenzuschlagen, die sich nicht von sich aus verständigen wollen. Doch wer die Macht hat, Köpfe zusammenzuschlagen, ist immer versucht, auch die Richtung vorzugeben, in der sich die Dinge entwickeln sollen.
Erneut "Besiegte", nämlich die Brüder?
Konkret, es scheint nach den Informationen der immer der Macht nahestehenden offiziellen Zeitung "al-Ahram" bereits 300 Mandate zur Festnahme von führenden Muslimbrüdern zu geben. Der ägyptische Fernsehsender von al-Jazeera, er heisst "al-Jazeera Ägypten Direkt" und galt als den Brüdern nahestehend, wurde von Sicherheitskräften besetzt und seine Journalisten, nach den Angaben eines ihrer Kollegen, "bei der Arbeit festgenommen", als sie gerade dabei waren, Bilder einer Demonstration der Pro-Mursi-Kräfte zu senden.
Ausreiseverbote für die Oberhäupter der Bruderschaft wurden an die Grenzstationen und Flughäfen übermittelt. All dies mag notwendig sein, um Blutvergiessen oder die Hetze dazu zu vermeiden. Die jüngsten Unruhen haben im ganzen Lande gegen 50 Tote gekostet. Doch die Gefahr besteht, dass nun die Muslim Brüder ihrerseits von dem politischen Geschehen ausgeschlossen werden. Wenn dies geschieht, beginnt das Spiel von "Gewinner nimmt alles" erneut.
Schwierige Gleichgewichte
Ein Gleichgewicht zwischen allen politischen Kräften zu erreichen unter Führung derjenigen, die die Wahlen gewinnen, aber ohne Diskriminierung der Anderen, ja ohne dass die Anderen befürchten, sie würden diskriminiert, ist unendlich viel schwieriger. Doch dies muss erreicht werden, wenn das Nilland nicht noch ein drittes Mal von vorne anfangen soll.