Schon die Sitzordnung im Abgeordnetenhaus sollte klar machen, dass in Washington ein neuer Wind weht, ein Wind des Wechsels, ein Lüftchen der Überparteilichkeit. Anders als früher, als Demokraten und Republikaner getrennt sassen und, je nach Parteizugehörigkeit des Präsidenten, entweder frenetisch applaudierten oder betreten schwiegen, sassen Amerikas Volksvertreter diesmal harmonisch durchmischt auf ihren Plätzen. „Date Night“ nannten Spötter Barack Obamas 62-minütige Rede zur Lage der Nation, eine Gelegenheit für vorurteilslose Rendez-vous und Romanzen.
Und fast alle trugen sie ein schwarzweisses Gebinde in Erinnerung an das Attentat jüngst in Tucson, bei dem ein vermutlich geistesgestörter Einzelgänger vor einem Supermarkt sechs Menschen kaltblütig getötet und die Abgeordnete Gabrielle Giffords schwer verletzt hatte. Die Fernsehkameras zeigten denn auch Giffords’ leeren Sitz in der Kammer und schwenkten auf die Loge, in der Michelle Obama zusammen mit ausgewählten Gästen sass, unter ihnen die Eltern und der Bruder jenes an 9/11 geborenen neunjährigen Mädchens, das der Attentäter in Tucson erschoss. Giffords selbst, deren Heilungsprozess bisher erstaunlich gut verlaufen ist, verfolgte die Rede des Präsidenten vom Spitalbett aus, ihren Gatten, der Nasa-Astronaut ist, zur Seite.
Gefährliche Intensität
Nur Michele Bachmann, eine Abgeordnete der Tea Party aus Minnesota, mochte sich nicht an die überparteiliche Sitzordnung halten und sass zwischen zwei republikanischen Parteifreundinnen. Sie trug auch kein schwarzweisses Band. Bachmann fühlte sich bemüssigt, nach der offiziellen zehnminütigen Entgegnung der Republikaner, die der Abgeordnete Paul Ryan aus Wisconsin vortrug, ihre eigene Gegenrede zu halten. Dabei sprach, lächelte und gestikulierte sie der „New York Times“ zufolge mit einer Intensität, „die beinahe den Bildschirm zersplittern liess“.
Während zweier Jahre, so Bachmann in ihren fast trotzigen Ausführungen, habe Präsident Obama zwar Versprechen gemacht wie in seiner Rede zur Lage der Nation, „trotzdem aber haben wir eine Arbeitslosigkeit, sind die Hauspreise im Keller und steigt der Benzinpreis ins Unermessliche“. Statt weniger Staat habe Obama der Nation eine Bürokratie beschert, die Amerikanern vorschreibe, was für Glühlampen sie zu kaufen hätten, und die unter Umständen 16 5000 Beamte beschäftigen werde, um die Umsetzung der Reform des Gesundheitswesens zu überwachen. Wie andere Vertreter der Tea Party propagierte die adrett geföhnte Abgeordnete Patriotismus pur, unerschütterlich in ihrem Glauben an Amerikas Sonderstellung in der Welt.
Hehre Rhetorik, wenig Konkretes
Auch Barack Obama unterliess es nicht, die Amerikaner an ihre stolze Geschichte zu erinnern. Er schilderte den Werdegang der Nation mit Bildern, die, so „New York Times“-Kolumnist Matt Bai, an Wandbilder der Depression und Filmwochenschauen des Kalten Krieges erinnerten: “Er erwähnte den Sputnik-Schock, das Apollo Projekt und die transkontinentale Eisenbahn. Er plädierte für staatliche Investitionen, ohne sie zu konkretisieren, und beschwor ein Amerika der Zukunft - mit einer Million Elektrofahrzeugen bis 2015, 80 Prozent sauberer Energie bis 2035 und Zugang zu Schnellbahnen für acht von zehn Amerikanern innert 25 Jahren.“ Amerika, sagte der Präsident, sei jene Nation, die Autos vor die Häuser und Computer in die Büros gestellt habe, die Nation Edisons und der Gebrüder Wright, von Google und Facebook: „Wir schaffen Grosses.“
Doch all die hehre Rhetorik half nicht, den Leitartikler der „Washington Post“ zu überzeugen, der Barack Obamas Rede zur Lage der Nation die Note „enttäuschend“ gab: „Präsident Obama trat sein Amt mit dem Versprechen an, ein anderer Politiker zu sein – einer, der mit dem amerikanischen Volk ehrlich über die schwierigen Entscheide sprechen würde, die es zu treffen gilt, und ihm helfen würde, die richtige Wahl zu treffen. Die Rede zur Lage der Nation (…) wäre ein Anlass gewesen, dieses Versprechen einzulösen. Doch er enttäuschte uns.“
Zwar gehe er, so der Leitartikler der „Post“, mit vielem in der Rede einig: „Um in der Welt wettbewerbsfähig zu bleiben und den Trend wachsender Ungleichheit zu Hause umzukehren, wird die Regierung, wie Barack Obama vorschlug, in Forschung, Bildung und Infrastruktur investieren müssen. Um im Äusseren sicher zu bleiben, darf das Land nicht bei den Verteidigungsausgaben oder der Entwicklungshilfe sparen. Republikanische Visionen eines massiv schwächeren Staates sind unrealistisch und möglicherweise gefährlich.“. Der Präsident aber habe es verpasst, genauer zu sagen, wie er all seine Pläne finanzieren wolle: „Das kommt von einem Mann, der versprochen hat, Washington zu ändern. Was er aber sagte, tönte viel zu uninspiriert.“
Die Zukunft gewinnen
Indes brach Barack Obama, wie es Präsidenten zu tun pflegen, einen Tag nach seiner Rede zu einer Reise ins amerikanische Kernland auf. In Wisconsin wollte er Firmen besuchen, die sich mit der Produktion sauberer Energie beschäftigen – eines seiner Hauptanliegen. Nicht ganz zufällig ist Wisconsin auch einer jener Staaten, in denen die Republikaner bei den Zwischenwahlen 2010 stark an Terrain gewonnen haben und die im Präsidentschaftswahlkampf 2012 voraussichtlich erneut eine Schlüsselrolle spielen werden.
Obamas Parteifreunde dürften indes mit Befriedigung registrieren, dass der Präsident, dessen Beliebtheit laut Umfragen wieder im Steigen begriffen ist, sich seiner beträchtlichen Talente als Wahlkämpfer erinnert. Und vielleicht auch an den Umstand, dass im Januar vor 50 Jahren der unvergessene John F. Kennedy in Washington DC sein Amt angetreten hat. Kennedys appellierte an jenem sonnigen Wintertag Anno 1961 an den guten Willen aller Amerikaner: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für den Land tun kannst.“
Zwar sagte Barack Obama in seiner Rede zur Lage der Nation, es gehe derzeit nicht darum, wer die nächste Wahl gewinne, denn der jüngste Urnengang habe im letzten November eben erst stattgefunden. Doch Beratern des 44. Präsidenten zufolge stand dessen Rede unter dem Motto: „Die Zukunft gewinnen“. Obama, ehrgeizig, wie er ist, hat dabei wohl nicht nur an die Lotterie gedacht.