Was als Stoff aus der mythologischen Vorzeit den Kopf beladen und verwirren könnte, erfüllt das Herz und löst sich auf in Freude: die Oper „Orfeo ed Euridice“ von Christoph Willibald Gluck in der Inszenierung und Choreografie von Beate Vollack im Theater St. Gallen. Leicht, fliegend und auf Wolken schwebend ereignet sich die Aufführung. Sie ist als Ensemble-Leistung ein Vergnügen auch dann, wenn es dramatisch in die Hölle geht, und erst recht, wenn die Spannung wächst, ob Orfeo und Euridice das erhoffte Glück oder das befürchtete Leid erfahren.
Umwälzende Bedeutung
Die 1762 in Wien uraufgeführte und später verschiedentlich überarbeitete Oper, genauer „Azione teatrale per musica“, besitzt musikgeschichtlich eine umwälzende Bedeutung. Dem Geist der Aufklärung verpflichtet, lösten sich Gluck und sein Librettist Ranieri di Calzabigi – dessen Name in zahlreichen Schreibweisen überliefert ist – aus der Starre des höfischen Kulturzeremoniells und entschieden sich für Einfachheit, Wahrheit und Natürlichkeit. Wichtig war die enge und nachvollziehbare Verknüpfung von Musik und Text.
Was als Ausdruck menschlicher Gefühle als Überschwang und pathetischer Nachklang peinlich berühren könnte, packt als frisch, glaubhaft und bleibend aktuell. Liebe und Tod werden bei Gluck zur herrlichen Musik, die an die Seele greift, aber diese nicht zerreisst.
Bestechende Regie
Die St. Galler Inszenierung verweigert sich richtigerweise jeder hymnischen Idealisierung und setzt sich stattdessen durchaus irdisch mit der Frage auseinander, wie weit Menschen für die Liebe ihres Lebens gehen und gehen würden. Orfeo antwortet nicht in der Pose des alle Versuchungen lächelnd und mühelos meisternden Helden, sondern als hart geprüfter und um Fassung ringender Mann.
Bestechend auch der Regie-Einfall, zwei der drei Hauptrollen je von einem singenden und einem tanzenden Part interpretieren zu lassen. Euridices und Amors Verdoppelung ist eine brechende Spiegelung, mit der die Charaktere eine reizvolle Vieldeutigkeit gewinnen. Gesang und Tanz sind gleichberechtigte Ausdrucksmittel und veranschaulichen so präzis wie elegant den Unterschied zwischen „Opera seria“ und „Azione teatrale per musica“.
Leistung aus einem Guss
Die von Gluck geforderte Einfachheit manifestiert sich überzeugend in der aufs Zweckdienliche beschränkten Bühnenausstattung. Hinter der flach und leer gehaltenen Hauptbühne wölbt sich eine glänzend schwarze und als Tanzfläche genutzte Halfpipe hinauf zu einer mattschwarzen Tribüne für den Chor. Nur das Licht wechselt von rot für die Unterwelt zu weiss für die Insel der Seligen.
Diese karge Funktionalität lässt für die Musik, den Gesang und den Tanz unerbittlich eine einzige Darbietungsweise zu: die perfekte samt virtuosem Zusammenspiel.
Es gelingt. Darum müsste hier ein Feuerwerk lobender Adjektive gezündet werden und alle Beteiligten einzeln beleuchten. Stellvertretend seien genannt George Petrou, der das Sinfonieorchester St. Gallen dirigierte, Beate Vollack, Inszenierung und Choreografie, Kinsun Chan, Bühne und Kostüm, Andreas Enzler, Licht, und Michael Vogel, Choreinstudierung, sowie der Countertenor Xavier Sabata als Orfeo, die Sopranistin Tatjana Schneider als Euridice, Cecilia Wretemark als Euridice-Tänzerin, die Mezzasopranistin Sheida Damghani als Amor, David Schwindling als Amor-Tänzer.
Die Begeisterung des Ensembles überträgt sich aufs Publikum.
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