Nach achtwöchigem, zähem Ringen haben sich die Spitzen von CDU, CSU und SPD auf ein gemeinsames Koalitionsprogramm für die nächsten vier Jahre geeinigt. Doch noch ist nichts sicher, denn die sozialdemokratischen Parteimitglieder müssen zustimmen.
Erleichetrung, keine Zufriedenheit
Die Erleichterung stand den Unterhändlern von CDU, CSU und SPD deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie am Mittwochmorgen nach einer Mammutsitzung von mehr als 17 Stunden ein Ergebnis verkünden konnten. Man hatte endlich ein Regierungsprogramm einer Grossen Koalition in Deutschland für die nächsten vier Jahre zu Papier gebracht.
Doch wirkliche Zufriedenheit strahlte niemand aus. Und das war gewiss nicht allein auf die allgemeine körperliche Müdigkeit zurückzuführen. Denn erstens müssen alle Beteiligten selbst noch die Tatsache verarbeiten, dass von den im Wahlkampf gemachten Ankündigungen kräftige Abstriche gemacht werden mussten. Und zweitens – viel bedeutsamer – hat sich die sozialdemokratische Parteiführung von Vornherein völlig in die Hände ihrer 470 000 Mitglieder gegeben. Sie müssen nämlich zwischen dem 6. Und 12. Dezember das Berliner Verhandlungs-Ergebnis erst noch schriftlich billigen.
Gefährlicher als der Ritt über den Bodensee
Gemessen an dem Risiko, das der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und seine Mitgenossen aus dem Bund und den Ländern damit eingegangen sind, könnte sich der vom schwäbischen Dichter Gustav Schwab beschriebene Ritt des elsässischen Postvogts Andreas Egglisperger über den Bodensee noch im Nahhinein als ein fröhliches Abenteuer darstellen. Glaubt man Partei-Insidern, so liegt die Stimmung in der Genossenschaft bei ungefähr 50 : 50. Wobei die dann meist folgende Zusatzbemerkung freilich einiger Logik entbehrt. Angeblich nämlich überwiege die Zustimmung beim „einfachen Fussvolk“, während die Funktionsträger in den verschiedenen Ebenen mehrheitlich negativ eingestimmt seien - und zwar (merkwürdigerweise) weil sie die Ablehnung „unserer Leute“ befürchten.
In Wirklichkeit liegt das Problem bei Deutschlands ältester und traditionsreichster Partei tiefer. Nach zwei aufeinander folgenden, verheerenden Wahlschlappen sind Führung und Gefolgschaft nicht nur geschockt, sondern auch tief verunsichert, wohin der Weg der Partei gehen solle. Vor allem das Wahldebakel 2009, als die SPD nach ihrer Beteiligung ebenfalls an einer Grossen Koalition trotz hervorragender Leistungen vor allem bei der Bewältigung der seinerzeitigen Bankenkrise auf rund 20 Prozent abstürzte, herrscht eine geradezu panische Furcht vor der Bundeskanzlerin Angela Merkel und deren Wirkung auf die Öffentlichkeit. Vor allem bei den Älteren sind natürlich die Zeiten unvergessen, als ein Willy Brandt weit über 40 Prozent der Wählerstimmen einsammelte und die SPD damit sogar zur stärksten Kraft im Deutschen Bundestag machte. Aber das ist halt schon 40 Jahre her.
Veränderte Kräfteverhältnisse
Diese Ratlosigkeit wird aktuell noch verstärkt durch die vor allem in den Bundesländern sichtbar werdende Veränderung der „traditionellen“ Kräfteverhältnisse. Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg hatte zwar noch der lang beschworene Block von SPD und Grünen obsiegen können. Doch erstmals musste dabei die stolze alte SPD die einstigen Sonnenblumenfreunde an sich vorbei ziehen lassen und sich selbst mit der Rolle des Juniorpartners zufrieden geben müssen. Und bei den jetzt zeitglich mit den Berliner Treffen im Bundesland Hessen laufenden Bemühungen um eine neue Landesregierung hat der dortige Ober-„Sozi“ Torsten Schäfer-Gümbel durch ein geradezu unglaublich dämliches Vorgehen sogar dafür gesorgt, dass in Wiesbaden mit höchster Wahrscheinlichkeit die einstigen „Erbfeinde“ CDU und Grüne als Partner regieren werden. Keine Frage, diese Bewegungen werden in der Folge auf Deutschland als Ganzes abstrahlen.
Und dies möglicherweise mit schwer wiegenden Folgen. Man muss nun wirklich kein Prophet sein, um den tiefen Krater vorherzusagen, den eine Ablehnung des 185 (!) Seiten umfassenden Koalitionspapiers durch die Mitglieder vor allem für die SPD aufreißen würde. Als erstes würde mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit die gesamte jetzige Parteiführung hinein gerissen. Und der Weg in die Zukunft wäre noch viel ungewisser. Theoretisch haben die Sozialdemokraten ja bereits beim sogenannten „Konvent“ vor wenigen Tagen ein seit der Wiedervereinigung existierendes Tabu beseitigt – nämlich kein Zusammengehen mit der aus der DDR- Einheitsparte SED hervorgegangenen Parte, die sich nach nun drei Umbenennungen als „Die Linke“ bezeichnet. Für viele junge SPD-Mitglieder ist das wohl kein grosses Problem; die meisten kennen vermutlich nicht einmal aus der Parteihistorie die Leidensgeschichte vor allem der Sozialdemokraten im Nachkriegsdeutschland unter kommunistischer Diktatur. Dennoch würde eine Verbrüderung mit den Nachfolgern von Walter Ulbricht und Erich Honecker die Partei mit hoher Wahrscheinlichkeit auch heute noch zerreißen.
Also, was tun?
Nun ist freilich auf Unionsseite die Begeisterung auch nicht übermässig ausgeprägt bei der Vorstellung, in den nächsten vier Jahren mit einem innerlich verletzten und deshalb vermutlich besonders unbequemen Partner die Geschicke des Staates lenken zu sollen. Jetzt erst einmal versuchen beide Seiten der Öffentlichkeit zu vermitteln, die Koalitions-Kompromisse trügen natürlich ganz deutlich die eigene Handschrift. Dieses glaubhaft überzubringen, ist für beide Lager außerordentlich wichtig. Für Gabriel und die SPD, um mehrheitlich die Zustimmung der Genossen an der Basis zu erhalten. Und für Angela Merkel sowie Horst Seehofer, um zu demonstrieren, dass CDU und CSU als 42-Prozent-Wahlsieger vom 2. September sich keineswegs vom sozialdemokratischen Verlierer dominieren oder gar über den Tisch haben ziehen lassen.
Freilich, das 185-Seiten-Kompromisspapier enthält zwar wichtige prinzipielle Absichten; es fehlen aber häufig noch die ja auch nicht ganz unwichtigen Details etwa der zu erwartenden finanziellen Auswirkungen. Vor allem die Unions-Seite schwört Stein und Bein, sich mit ihrem Wahlkampfversprechen durchgesetzt zu haben, dass – komme was wolle – keine neuen Schulden aufgenommen und auch keine Steuern erhöht werden. Man darf daher gespannt sein, wie die vereinbarten Wohltaten zur angeblich „Schliessung der Gerechtigkeitslücke“ im Land bezahlt werden können. Noch unmittelbar vor der entscheidenden Abschluss-Sitzung hatte das Bundesfinanzministerium die Kosten der bis dahin zu Papier gebrachten sozialen Forderungen und Wünsche mit rund zusätzlich 55 Milliarden Euro beziffern. Jetzt heißt es, man habe diese Summe auf etwa 20 Milliarden zusammengestrichen. Und diese seien zu bewältigen. Da spielt allerdings mit Sicherheit das berühmte Prinzip Hoffnung mit – die Hoffnung nämlich, dass die gegenwärtig gute Wirtschaftslage Bestand haben möge und darüber hinaus international keine Einbrüche erfolgen.
Grosse Koalition, kleine Sprünge?
Zur Parteiengeschichte im Nachkriegsdeutschland gehörte die These, dass Grosse Koalitionen eigentlich nur in besonders schweren Zeiten die Politik bestimmen sollten. Inzwischen steht bereits die dritte insgesamt und die zweite in diesem, ja erst kurzen Jahrhundert an. Natürlich gibt es Probleme, durchaus auch beträchtliche. Doch reichen diese aus, um diese doch eigentlich als totale Ausnahmen gedachten Regierungskonstellationen zu rechtfertigen? Denn als Katstrophenland präsentiert sich die Bundesrepublik nun wirklich nicht. Auf jeden Fall sind Angela Merkel und ihre zukünftigen Regierungspartner zum Erfolg verdammt. Wie immer dieser Erfolg am Ende auch aussehen mag. Kann durchaus sein, dass die Grosse Koalition auch nur zu kleinen Sprüngen in der Lage war.