Der Rote Turm auf dem Julier ist Vergangenheit. Am 31. Juli 2017 war das Theater im Roten Turm eröffnet worden , ein Wahrzeichen der ganz aussergewöhnlichen Art. Jetzt ist Schluss. Aber wer weiss, vielleicht bekommt der Turm einen Nachfolger.
Tja, das war’s. In einer strahlend schönen Vollmondnacht hat Giovanni Netzer am 31. August hoch oben auf dem Julierpass einen Nachruf auf den Roten Turm gesprochen. Mitten im Hochsommer ist es um diese Tageszeit kalt draussen auf über 2'200 Metern Höhe. «Wir verabschieden uns nicht leicht vom Roten Turm», sagt Giovanni Netzer.» Erst dachten wir: drei Jahre und dann lechzen alle nach etwas Neuem. Dem war nicht so.» Ganz im Gegenteil.
Sechs Jahre und genau einen Monat nach der Eröffnung im Juli 2017 fand die «Grosse Vesper» von Sergej Rachmaninow als allerletzte Vorstellung statt. Voller Emotionen und mit viel Abschiedsschmerz.
Das «Ensemble Vocal Origen» ist auf der kreisrunden schwebenden Bühne aufgestellt, beleuchtet zum grossen Teil (aber nicht nur…) von Kerzen. Unter der Leitung von Clau Scherrer erklingt diese Vesperliturgie, ganz ohne Instrumente. Es sollte Rachmaninows letzter Beitrag zur russisch-orthodoxen Kirchenmusik werden. 1915 in Moskau uraufgeführt, erklingt es ganz in der russischen Chor-Tradition. Insbesondere die tiefen Bass-Stimmen wirken fremd und betörend. Für Rachmaninow selbst ist die damalige Uraufführung zur «Stunde der glücklichsten Befriedung» geworden. Zwei Jahre später ging er ins Exil. Seine geistlichen Werke hatten bei den neuen kommunistischen Machthabern keine Gnaden mehr gefunden.
Und nun hat dieses Werk die sechs Jahre Spieldauer abgeschlossen, die der Rote Turm schliesslich erreicht hat. Geradezu hypnotisierend und von grosser Schönheit ist dieser Gesang, mit dem der Rote Turm noch einmal seinen ganzen Zauber entfalten konnte. Der Blick aus den Fenstern in die archaische Landschaft, egal ob Sommer oder Winter, war das schönste Bühnenbild, das man sich während all’ der Jahre vorstellen konnte.
Eine Heimat auch für Künstler
«Wir haben gesehen, dass sich von hier aus ein Netzwerk um die Welt entwickelt», so Giovanni Netzer. «Wir hatten 35 Uraufführungen. Darüber sind wir froh und dankbar. Wir wissen, wieviel Wohlwollen uns entgegengebracht wurde. Heute diskutiert man über Nachhaltigkeit, deshalb möchten wir die Netzwerke erhalten, die wir geschaffen haben. Es ist eine ‘Heimat’ geworden, auch für die Künstler. Es ist besonders wichtig für jene, die ihr Zuhause nicht mehr haben. Heute führen wir Rachmaninow auf, das Werk eines Russen, der auch geflohen ist.» Dann betont Netzer: «Die Welt soll reflektiert werden. Wir müssen die Welt neu schaffen. Wir wollen nicht abschliessen, sondern weiterführen».
Wie er die Welt neu schaffen will, hat Giovanni Netzer in den vergangenen Jahren bereits auch in Mulegns gezeigt. In dem Dorf, das ebenfalls an der Julier-Route liegt, renoviert «Origen» das Post Hotel «Löwe» sorgfältig, ein zweites Gebäude, die «Weisse Villa» wurde sogar um einige Meter verschoben. Inzwischen erinnert ein «Zuckerbäcker-Café» an die vielen Bündner Auswanderer, die einst als Zuckerbäcker die halbe Welt bereisten und gut verdienten mit ihren verführerischen Süsswaren.
Ein weiterer Standort von «Origen» ist Riom mit einer Burg aus dem 13. Jahrhundert, die inzwischen ebenfalls renoviert wurde und «Origen» seit 2006 als Spielstätte dient.
In Zukunft ein «Ospizio»?
In den kommenden Wochen wird nun also der Rote Turm wieder zurückgebaut. Die rote Farbe hat unter der extremen Witterung gelitten und sieht nun eher nach Rost aus. Die gesamte Theatertechnik wird ausgebaut und wieder verwendet. Ebenso die Heizung, die sanitären Anlagen und die Elektroinstallationen, die Brandschutztüren, Glasscheiben und das Mobiliar. Das Holz des Turms ist mittlerweile nicht mehr wieder zu verwenden und wird zur Wärmegewinnung verbrannt.
Und selbstverständlich ist damit für Giovanni Netzer die Sache nicht erledigt. Ein Ende ist immer auch ein neuer Anfang: in absehbarer Zeit könnte ein neuer Turm auf dem Julier entstehen. Ein «Ospizio». Eine Herberge.
Vorgesehen ist in diesem neuen Bau eine Ausstellung zur Geschichte des jahrtausendalten Pass-Verkehrs. Einen Stock darüber gibt es zwölf einfache Zimmer in klösterlicher Bauweise, dazu ein Refektorium. Über allem ist der Kultursaal, wieder mit schwebender Bühne und dem weiten Blick in die raue, karge Landschaft. «Origen» ist überzeugt davon, dass damit auch die Landschaft am Pass aufgewertet wird.
Bis auf weiteres ist es ein Projekt. Mehr nicht. Aber so hat es auch mit dem Roten Turm angefangen und Giovanni Netzer ist zuversichtlich. Ein Modell des neuen Turms konnte jedenfalls schon mal bestaunt werden in den letzten Tagen des Roten Turms. Da hat in der Spiegelung der Fenster der neue Turm fast schon so ausgesehen, als stünde er tatsächlich in der Landschaft draussen. Eine Fata Morgana, die vielleicht Realität wird. «Der neue Turm besteht aus Dreiecken,» sagt Giovanni Netzer. «Dreiecke sind Zelte. Und Zelte sind Wohnungen.» Wohnungen, in die Kultur einzieht, aber auch Menschen, die auf der Durchreise sind an diesem magischen, kargen Ort.