Den Pekinger Laobaixing, den Durchschnittsbürger, kümmert das so wenig wie sehr wahrscheinlich den Durchschnittsbürger von Ostermundigen die Session der Eidgenössischen Räte. Dennoch, die Gazetten, das Internet, das Radio und das Fernsehen berichten im Vorfeld ausgiebig über Sorgen, Klagen und Forderungen eben dieser Durschnittsbürger landauf, landab.
Nach drei Jahrzehnten der erfolgreichen Wirtschaftsreform zeigt sich wie anderswo auch, dass mit jedem gelösten Problem neue Probleme entstehen. Dem will der 12. Fünfjahresplan (2011-2015), der vom Parlament verabschiedet werden wird, gegensteuern. Nicht mehr Wachstum auf Teufel komm raus, heisst die Devise. Premier Wen Jiaobao hat deshalb bereits das jährliche Wachstumsziel bis 2015 mit für China bescheidenen sieben Prozentpunkten definiert. Schon einmal, vor fünf Jahren, wurde das Wachstumsziel auf 7,5 Prozent heruntgefahren. Das Resultat ist bekannt: durchschnittlich waren es dann zehn Prozent.
Nachhaltigkeit wird also betont, nicht zuletzt um Umwelt, Ressourcen und die „soziale Stabilität“ streng nach der Parteilinie der Schaffung einer „harmonischen Gesellschaft“ zu bewahren. Trotz aller ökonomischen Erfolge mehren sich die Probleme: Inflation, wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land sowie vor allem Korruption auf allen Ebenen der Regierung und der Partei.
Zuckerbrot und Peitsche
Im Fokus der westlichen Medien wird am Wochenende voraussichtlich nicht die Parlaments-Session stehen, sondern vielmehr der erneut über das Internet angekündigte „Jasmin-Spaziergang“ in Peking, Shanghai und andern Städten. Der letzte, in Peking jedenfalls, wurde in der Einkaufsstrasse Wanfujing wenig beachtet. Allerdings zückten die Behörden, wie in dieser Kolumne vor vierzehn Tagen dargelegt, die „Peitsche“ und verhinderten mit einem Grossaufgebot von Polizei, dass eine Demonstration sich auch nur formieren konnte. Einige Journalisten wurden verprügelt, die meisten kontrolliert und weggewiesen. Die Devise heisst, „Instabilität“ im Keime zu ersticken.
„Zuckerbrot“ gibt es wie jedes Jahr am 5. März. Rund dreitausend Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses (NVK) aus allen Provinzen versammeln sich dann in der Grossen Halle des Volkes am Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen in Peking. Die gesetzgeberische Arbeit des einmal jährlich tagende Kongresses wird übers Jahr von einem „Ständigen Ausschuss“ besorgt. Die Volksvertreter und Volksvertreterinnen werden nicht vom Volk sondern von den Provinz-Parlamenten gewählt. Immerhin, manchmal hat es bereits zwei Anwärter für einen Sitz ...
Nach der Verfassung ist der Nationale Volkskongress das höchste Regierungsorgan. Allerdings: Das alleinige Sagen im Reich der Mitte hat letztlich nur die Kommunistische Partei. Die hat heute rund 80 Millionen Mitglieder. Ähnlich wie die Regierungsorgane ist auch die Partei von Oben nach Unten strukturiert. Das mächtige Zentralkomitee mit rund 300 Mitgliedern „wählt“ das 21-köpfige Politbüro. Das mächtigste Gremium ist allerdings der neunköpfige ständige Politbüro-Ausschuss. Auf den kommt es an. Die Nummer 1 ist der Parteichef, der auf der Regierungsebene auch das Amt des Staatschef bekleidet (Hu Jintao). Die Nummer 2 ist dann bereits der Vorsitzende des Nationalen Volkskongresses (Wu Banguo) und die Nummer 3 der Premierminister (Wen Jiabao).
Konsens nach alter chinesischer Tradition
Die Partei, und nur sie allein, bestimmt also die Geschicke des Landes. Das ist Demokratie chinesischer Prägung. Den Nationalen Volkskongress allerdings als Kopfnicker-Parlament abzuqualifizieren, wie das routinemässig – auch alle Jahre wieder – westliche Journalisten in ihren NVK-Berichten zu schreiben pflegen, geht weit an der Realität vorbei. Gewiss, die elektronisch getätigten Abstimmungen sind nach westlichen Gepflogenheiten krass einseitig, nicht selten im neunzig-Prozent-Bereich. Zuvor allerdings gibt es engagierte, zuweilen gar heftige und kontroverse Debatten. Nach den Diskussionen herrscht dann jedoch, nach alter chinesischer Tradition, Konsens. Das gleiche gilt für die allmächtige Partei. Gegen aussen Einheit, im Innern dann durchaus „innerparteiliche Demokratie“, d.h. verschiedene Richtungen und Fraktionen. Auch da gibt es nach der Debatte nur noch Einheit und Harmonie.
Die autokratische chinesische Demokratie kommt ohne Volkesstimme freilich nicht aus. Die KP-Führer haben das im Zuge der numehr über dreissigjährigen Wirtschaftsreform richtig erkannt. Sie wollen, ähnlich wie zuvor die Kaiser, um jeden Preis Chaos (Luan) verhindern, das "Mandat des Himmels", die Macht also, bewahren. Das konfuzianische Konzept einer „harmonischen Gesellschaft“ wurde deshalb vor vier Jahren am Parteitag nicht von ungefähr als offizielle Parteilinie verabschiedet. Repräsentative Umfragen zeigen den roten Mandarinen von Peking bis tief in die Provinzen an, was genau Chinesinnen und Chinesen beschäftig und bedrückt. Ergänzt werden diese Umfragen nicht selten durch ein Prozedere, das wir gut schweizerisch eine „breite Vernehmlassung“ bezeichnen würden.
Das fehlende soziale Netz als Hauptsorge
In den Provinzen gibt es ebenso wie in der Hauptsstadt seit Alters her Amtsstellen, die Reklamationen, Beanstandungen und Klagen entgegennehmen. Allerdings kann da etwas zu viel Mut durchaus auch negative Folgen haben. Historisch belegt: 1957 Maos Kampagne „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Gedankenschulen miteinander wetteifern“. Damals wurde zur Kritik aufgerufen, weil vieles seit der Befreiung 1949 wirtschaftlich, politisch und sozial schief lief. Die Kritik war jedoch derart überwältigend, dass Mao die Kampagne abbrach und Hunderttausende von Kritikern als „Rechtsabweichler“ verurteilte und in die Verbannung schickte. Erst zwanzig Jahre später wurden die Überlebenden rehabilitiert. Allzu Aufmüpfige werden auch heute nicht selten ins Gefängnis gesteckt.
Vor dem Nationalen Volkskongress werden auch die Medien als grosse Klagemauer in Beschlag genommen, durchaus von den Herrschenden im Sinne der Schaffung einer „harmonischen Gesellschaft“ unterstützt. Nach einer Internet-Umfrage der offiziellen Nachrichten-Agentur Neues China (xinhuanet.com) sind erschwinglicher Wohnraum, Inflation, Einkommen und Arbeitsplätze die Hauptsorgen der chinesischen Bürgerinnen und Bürger. Das Sprachrohr der Partei, Renmin Ribao (Volks-Tageszeitung) wiederum macht auf seiner Internetseite (people.com.cn) als Hauptsorge der Chinesinnen und Chinesen in der Stadt wie auf dem Lande das nur rudimentär vorhandene soziale Sicherheitsnetz aus.
Der Nationale Volkskongress wird die Klagen und Anregungen sichten und im Sinne der harmonischen Parteilinie behandeln. Das ist, summa summarum, die „autoritäre Demokratie mit chinesischen Besonderheiten“ in einem Staat, der wirtschaftlich ganz offiziell der „sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung“ verpflichtet ist.