Da sitzt sie auf der Treppe, schön wie immer und lutscht ein Eis. Ein netter Mann nähert sich ihr und lädt sie zu einer Fahrt auf seiner Vespa ein.
Die Szene auf der Spanischen Treppe in Rom ist 66 Jahre alt. Sie stammt aus dem Film „Vacanze Romane“. Heute dürfte Audrey Hepburn dort an keinem Eis mehr schlecken.
Seit dem letzten Dienstag ist es verboten, sich auf die wohl berühmteste Treppe der Welt zu setzen, dort zu essen oder Getränke zu konsumieren. Wer es trotzdem tut, zahlt eine Busse von bis zu 400 Euro. Acht vorwiegend nette Polizistinnen und Polizisten wachen darüber, dass das Verbot eingehalten wird.
Der Entscheid der Römer Bürgermeisterin Virginia Raggi hat laute Proteste provoziert. Die Treppe, die zur Kirche Trinità dei Monti führt, sei öffentlicher Grund. Da solle man auch verweilen dürfen. Der Kunsthistoriker Vittorio Sgarbi sprach gar von „quasi-faschistischen Massnahmen“.
Sodom und Gomorrha
Viele Römerinnen und Römer zeigen jedoch Sympathie für die Massnahme der Bürgermeisterin. Nicht alle benehmen sich dort wie Audrey Hepburn und Gregory Peck. Da wurde gejohlt und gestritten. Kreuz und quer lagen die halbnackten Touristen auf den 135 Stufen. Einige biwakierten die ganze Nacht, viele waren betrunken, einige erbrachen sich, überall Essensreste, leere Flaschen, Sodom und Gomorrha, andere pissten an die Mauern, Babys wurden gewickelt und die Windeln auf die Treppe geworfen, aus den Handys plärrte oft die ganze Nacht Musik, ein junges spanisches Paar nahm sich vor, auf der Treppe ein Mädchen zu zeugen und es Trinità zu nennen.
Mit dem ist jetzt Schluss. Die Treppe sei ein Kunstwerk, sagt die Bürgermeisterin, sie müsse geschützt werden. Immerhin gehört sie zum Weltkulturerbe der Unesco.
Florenz und Venedig – ein Albtraum
Nicht nur die Spanische Treppe in Rom ist Opfer eines überbordenden Tourismus. Ganze Städte leiden in Italien unter Besucherhorden. Kreuzfahrt-Kolosse spülen jedes Jahr Millionen Ausländer ins Land. Low-Coast-Airlines befördern Hunderttausende. Der Airbnb-Hype macht immer mehr auch günstigere Aufenthalte möglich.
Florenz ist zu einem Albtraum geworden, zu einem Renaissance-Disneyland. Die Stadt hat längst ihre Seele verloren, zumindest im Sommer – ebenso Venedig. Beide Städte wurden zu Tode geliebt, sie sind Opfer ihrer Schönheit.
Das hinterletzte Zimmer
Doch viele profitieren von dem Rambazamba und werden reich. Nicht nur die Hotels, Restaurants und Souvenirläden. Neuerdings auch Private, die über Airbnb und andere Online-Portale ihre Wohnungen oder ihr hinterletztes Zimmer vermieten. In Florenz wird nach offiziellen Angaben bereits jede vierte Wohnung via Online an Ausländer abgegeben.
In Wirklichkeit sind es wahrscheinlich mehr, denn Italien wäre nicht Italien, wenn es nicht auch einen Schwarzmarkt gäbe. Bezahlt werden für die Wohnungen bis zu 4’000 Franken pro Monat. Das bringt vielen Arbeit. Auch Arbeitslose verdienen jetzt einige Euro dazu, meist als Putzleute.
„Maledetti turisti“
Zwei Milliarden Euro bringt der Tourismus jedes Jahr der Stadt Florenz. Das sind neun Prozent des Bruttoinlandproduktes. Jeder zehnte Florentiner, 38’000 Menschen, profitiert vom Tourismus.
Doch nicht allen behagt das. Viele Florentiner und Venezianer sprechen von „Maledetti turisti“ (verfluchte Touristen). Die Italiener finden keine Wohnungen mehr, weil Hausbesitzer lieber an gut zahlende Touristen vermieten. Zudem bringen manche Fremde nur Ärger, Lärm, Radau und Rabatz. Viele ziehen betrunken bis zum frühen Morgen durch die engen Gassen.
Wie Schafe, ein surrealer Anblick
Florenz, Donnerstagnachmittag: Das Touristenheer wird in Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe hat eine Nummer und eine Gruppenleiterin oder einen Gruppenleiter. Diese halten ein Schild mit der entsprechenden Nummer hoch. Und wie Schafe folgen die Gruppenteilnehmer dem Schild – ein oft surrealer Anblick.
Da steht die Gruppe Nummer 31 kurz vor der David-Statue. Eine junge Italienerin erzählt in gutem Englisch, dass diese Statue von Michelangelo in Marmor gehauen wurde (dass es eine Kopie ist, erzählt sie nicht). Eine ältere Amerikanerin fotografiert den üppigen Geschlechtsteil und kichert dabei. Schon wartet die Gruppe 17 vor dem nackten Koloss. Jetzt werden die „31er“ über den Ponte Vecchio geschleust. Sie erfahren, dass die Brücke nicht den Tiber überspannt, der nach Rom führt, sondern den Arno. Grosses Staunen.
Weiter zu Gucci und Prada
Im Dom erzählt man den vorwiegend älteren Besuchern, dass hier im 15. Jahrhundert Lorenzo de Medici ermordet wurde. „Aha, Lorenzo de Medici“. Weiter geht’s in die Kirche Santa Croce. Dort gibt es zunächst eine Kollision mit der Gruppe 12, die die Kirche verlässt. Die 31er und die 12er vermischen sich beim Ausgang. Einige wissen nicht mehr, zu welcher Gruppe sie jetzt gehören. Konfusion. Ein Kanadier weigert sich, in die Kirche einzutreten. Er weiss, dass vor zwei Jahren ein Stein vom Kirchendach fiel und einen spanischen Touristen erschlug.
Ein älterer Amerikaner seufzt beim Herausgehen und ruft den eintretenden 31ern zu: „Only graves“ – nur Gräber. Jetzt lernen die 31er, dass hier in der Kirche Dante, Machiavelli, Michelangelo und Galileo Galilei liegen. Santa Croce war die letzte Station. Die Uffizien, eines der wichtigsten Museen der Welt, steht nicht auf dem Programm. Sandro Botticellis nackte Venus bleibt den Touristen erspart – oder umgekehrt. Jetzt strömen die 31er in den klimatisierten Bus, der sie zu Gucci und Prada ins Outlet nach Barberino nördlich von Florenz bringt.
„Invivibile“
Viele Florentiner und Venezianer haben die Stadt verlassen. Venedig zählte vor dreissig Jahren über 100’000 Einwohner, heute sind es 52’000. Die Venezianer beklagen auch, dass immer mehr Chinesen und Russen ihre Restaurants und Bars aufkaufen. Auch in Florenz leben immer weniger Einheimische.
Die historischen Zentren sind „invivibile“ geworden – unlebbar. Viele Restaurants sind überfüllt – und überfordert. Da wird oft irgendetwas aufgetischt. Wer da noch immer von der italienischen Küche schwärmt, versteht wirklich nichts vom Essen.
Nackt in den Gassen
In Venedig wird mit Lichtsignalanlagen für Fussgänger experimentiert. Da die Besucher in den engen Gassen nicht mehr aneinander vorbeikommen, wird der Verkehr mit Ampeln geregelt. Bei Rot müssen die Fussgänger stehen bleiben und die Entgegenkommenden vorbeilassen.
Natürlich gibt es immer anständige Touristen, doch immer mehr gibt es eben auch andere. Im Urlaub scheinen sich viele Mensch sehr frei zu fühlen. Als Tourist zeige sich der Mensch oft von seiner schrecklichsten Seite, sagt ein italienischer Soziologe. In Venedig, der Serenissima, wird in die Kanäle gepisst. In Florenz führte die Polizei eine Horde betrunkener Deutscher auf den Posten, weil sie sich auszogen und grölend nackt durch die Gassen zogen. In Venedig ist es jetzt verboten, ab 19.00 Uhr öffentlich Alkohol zu trinken. Wer mit einer offenen Bierflasche erwischt wird, zahlt 100 Euro Busse.
Eintrittsgebühr?
Was tun gegen diese Touristenflut? Soll man ein hohes Eintrittsgeld verlangen, um in die historischen Zentren von Venedig und Florenz gelangen zu können? Schon der britische Schriftsteller und Venedig-Liebhaber John Ruskin schlug im 19. Jahrhundert eine Eintrittsgebühr vor. Oder soll man Barrieren errichten und nur noch eine bestimmte Zahl Touristen hineinlassen? Wenn einer rauskommt, darf ein anderer rein. Seit Jahren wird über solche Fragen gestritten.
Die Restaurants und Geschäfte wehren sich gegen eine Selektion. Viele sagen, man würde dadurch eine Zweiklassen-Gesellschaft fördern. Nur wer bezahle, dürfe dann die Sehenswürdigkeiten der beiden Städte zu Gesichte bekommen.
Ab September sollen in Venedig Kreuzfahrtschiffe über tausend Tonnen nicht mehr im Giudecca-Kanal, sondern am Fusina-Terminal auf dem Festland anlegen müssen. Das wird laut Umweltschützern wenig am Chaos im historischen Zentrum ändern. Zudem beschädigten auch Schiffe unter tausend Tonnen das fragile Fundament der Stadt.
Nicht nur Florenz und Venedig
Florenz und Venedig sind nicht die einzigen überlaufenen Orte: Auch Capri, die Cinque Terre und das Zentrum von Rom sind im Würgegriff oft schwitzender, lauter Touristen. Vor allem rund um den Trevi-Brunnen, im Vatikan und auf der Piazza Navona herrscht oft der Ausnahmezustand. Touristen sind nicht immer feine Leute.
130 Millionen ausländische Touristen logierten letztes Jahr in Italien. Sie trugen 230 Milliarden Euro ins Land. Das sind 13 Prozent des Bruttoinlandprodukts. 15 Prozent der Beschäftigten arbeiten in der Tourismusbranche. Touristen sind Milchkühe, und Milchkühe jagt man nicht von der Weide.
Chaos auf den Stränden
Nicht nur die Städte, auch die Strände sind im Sommer überlaufen. Dort hat man begonnen, nur noch eine bestimmte Zahl Badender zuzulassen, so am Strand von Punta Molentis im Süden Sardiniens bei Villasimius. Dort werden höchstens 300 (zahlende) Badegäste zugelassen. Wer in Cala Goloritzé im Norden der Insel baden will, bezahlt 6 Euro. Zugelassen werden höchstens 350 Gäste. An vielen Stränden werden zudem derart saftige Parkgebühren verlangt, dass vielen das Baden vergeht.
Auch kleinere Städte sind im Sommer in fester Hand der Touristen. Eben ist in Cagliari, der sardischen Hauptstadt, ein Kreuzfahrtschiff-Koloss eingelaufen. Ein nord- und südamerikanisches Touristenheer bewegt sich jetzt durch die Gassen. Ein zweites Kreuzfahrtschiff spült gleichzeitig Asiaten ans Land. Auch in Cagliari werden die Besucher in Gruppen aufgeteilt, auch hier folgen sie wie Schafe einem Schild mit einer Nummer. Die Besucher schwitzen, einige wollen ein Eis kaufen, haben aber keine Euro auf sich.
Ein älterer Amerikaner mit einem Trump-Käppchen atmet schwer. „I’m happy to be here in Capri“, schwärmt er, „Capri is a wonderful town.“ Niemand sagt ihm, dass Capri keine Stadt, sondern eine Insel ist. Und niemand sagt ihm, dass er sich nicht auf Capri befindet: sondern in Cagliari.