Lange kamen mein Hirn und ich gut miteinander aus. Ich konnte auf seine verlässlichen Dienste zählen, wenn ich einen Text las oder schrieb, mit jemandem sprach, tagträumte, ein Essen und einen guten Wein genoss. Bis mein Hirn neuerdings von Hirnforschern erfahren hat, es könne auf mich verzichten, weil ich „im Grunde“ eine Illusion sei, die es selber hervorbringe.
Seither rumort es unter dem Schädeldach. Ständig durchkreuzt mein Hirn Sätze wie „Ich schreibe einen Artikel über das Hirn“ mit Sätzen wie „Aha, erhöhte Aktivität im Hirnareal So-und-so“. Allmählich in der persönlichen Würde gekränkt, versuche ich meinem Hirn klarzumachen, was genau mich an seinen Geschichten so zermürbt. Gewisse Dinge würden mit mir nun eben mal nicht bloss geschehen, weil ich, die Person E. K., sie tue, erkläre ich ihm. Aber ich stosse auf Unverständnis. Das sei doch überflüssiges Gerede, sagt das Hirn. Eben nicht, das sei ein Indiz dafür, dass ich vieles aus eigenem Willen tue, erwidere ich, immer erhitzter, und das sei im Übrigen auch der Grund, warum es mir allmählich auf die Nerven gehe. Dass es mir auf die Nerven gehe, könne es deutlich erkennen, sagt mein Hirn, aber für so etwas wie „eigener Wille“ fände es keine Nervenaktivität.
Die wissenschaftliche Egophobie
Das Ich ist ein grosses wissenschaftliches Ärgernis. Es weigert sich standhaft, zum Beispiel im Hirnscan zu erscheinen. Unter Neurowissenschaftlern ist deshalb seit einiger Zeit eine spezifische Ich-Aversion zu konstatieren: eine Egophobie. In einschlägigen Kreisen hat sich ein populärwissenschaftliches Neuro-Sprech eingebürgert, welches das Wörtchen „Ich“ tilgen möchte. Alles, was wir traditionell als Aktion eines Ichs betrachteten, „entzaubern“ die Wissenschaftler nun als ichlosen Prozess in Nervennetzen. In den 1990er Jahren begann der Molekularbiologe Francis Crick sein Buch „The Astonishing Hypothesis“ mit einem Paukenschlag: „Sie, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen. (...) Sie sind nichts weiter als ein Haufen Neuronen.“ Seither ergiesst sich eine Schwemme an desillusionistischer Literatur über uns, dass man sich fragen muss, warum wir uns nicht schon längst als hirngesteuerte Zombies auf der Strasse umhergehen sehen.
Die Philosophie als Ich-Austreiberin
Woher diese seltsame und hartnäckige Desillusionsmanie? Eine naheliegende Antwort dürfte lauten, dass wissenschaftlichem Fortschritt per se ein desillusionierendes Moment eigen ist. Er räumt in der Regel mit lieb gewonnenen Meinungen auf. In diesem Sinn leistete natürlich Freud grosse Vorarbeit, als er das Ich als Herr im Haus der Psyche entliess. Und er konnte auf eine philosophische Traditionslinie der Ernüchterung bauen, die über Nietzsche und Schopenhauer bis zu Hume im 18. Jahrhundert zurückführt. Hume löste bekanntlich im Königswasser seiner Skepsis den Begriff der persönlichen Identität auf. Er argumentierte noch psychologisch, nicht neurologisch. Was ich vorfinde, so Hume, sind Empfindungen – „Perzeptionen“ – etwa der Wärme oder Kälte, des Lichtes oder des Schattens, der Lust oder Unlust, aber keine Empfindung des Ichs. Man erinnert sich an die arme, in einem fort Medikamente schluckende Mrs. Gradgrind in Charles Dickens Roman „Harte Zeiten“: „Ich glaube, es steckt hier irgendwo in der Stube ein Schmerz, aber ich könnte nicht mit Entschiedenheit behaupten, dass er in mich gefahren wäre.“
Die Grossmäuligkeit der Ich-Austreiber
Gegenwärtig erfreut sich Hume in gewissen egophoben Kreisen von Wissenschaftlern und Philosophen einer Renaissance. Erst vor kurzem lese ich in einem der jüngsten Elaborate des desillusionistischen Genres: „Die Rede über das Selbstbewusstsein ist inkohärenter Unsinn – ‚Selbste’ sind im Grunde nicht Bestandteile der sensorischen Welt. Und alle höheren Bewusstseinsformen (...), obwohl einigen Philosophen teuer, sind Unsinn auf Stelzen.“ (Nick Chater „The Mind is Flat“, 2018) Hier zeigt sich ein anderes Merkmal des Genres: sein offensiver Anspruch auf Interpretationshoheit. Man gibt den Philosophen und anderen intellektuellen Softies zu verstehen, dass man ein ganz harter Typ ist, wenn man sich mit „x ist nichts als ...“ in die Pose dessen wirft, der uns endlich sagt, wie die Welt „wirklich“ tickt: Hört, ihr Leute, was ihr bisher zu wissen glaubtet, ist Ignoranz, Irrtum, Illusion! Seit Nietzsche haftet der Nimbus des Heroischen, Tragischen an dieser Pose. Ein Schuss Gefallsucht ist ihr immer beigemischt. Auch ein gerüttelt Mass an halbstarker Grossmäuligkeit.
Der metaphysische Trick: Homunkulismus
All dies erscheint jedoch irrelevant neben der eigentlichen Crux der neurowissenschaftlichen Egophobie. Sie führt sich als Wissenschaft auf und ist eigentlich wissenschaftlich verkappte Metaphysik. Ihr grosser Kniff trägt einen Namen: Homunkulismus. Man schleust quasi undercover einen „kleinen Menschen“ ins Hirn und lässt ihn Operationen ausführen, die wir normalerweise einer realen Person zuschreiben. Der Kniff funktioniert in der Regel so, dass man uns erschlägt mit Tatsachen über Ausschüttungen von Serotonin, Signalübermittlungen in Synapsen, Aufbau von Aktionspotentialen. Siehst du, sagt man uns dann, das geschieht in Wirklichkeit, wenn du meinst, du seist ein Ich. Man verhirnt uns als Personen, und im gleichen Zug personifiziert man das Gehirn. Als „kleiner Mensch“ „interpretiert“ es nun, „entwirft“ es „Modelle“, „löst Probleme“, „treibt Schabernack“ mit uns, während wir Personen zu Marionetten einer neuronalen Maschine mutieren. Am Ende erscheinen wir umgekrempelt: vom Menschen mit Hirn zum Hirn mit menschlichem Fortsatz.
Das Interesse am ichlosen Automaten
Das Problem liesse sich vielleicht temperieren, indem man sagt, es handle sich um eine extreme methodische Fiktion: Wir betrachten uns, als ob wir hirngesteuerte ichlose Automaten wären. Aber das ist ein Spiel mit dem Feuer. Als so harmlos erweist sich die Fiktion nicht. Vor allem dann nicht, wenn Disziplinen wie Neuropsychologie, -chirurgie und -technologie ein machtvolles Dispositiv bereitstellen, das uns tendenziell immer mehr „ent-ichlicht“. Mittel der direkten Hirnbeeinflussung, Visionen einer Kommunikation zwischen Hirnen existieren bereits, und die Verhaltensforscher in Militär, Marketing und Management kriegen sich nicht mehr ein angesichts dieses Manipulationspotenzials.
There is no there in there
Selbstverständlich sind unsere mentalen Aktivitäten, also auch unser Selbstbewusstsein, von neuronalen Aktivitäten abhängig; selbstverständlich haben uns die Neurowissenschaften in den letzten zwei Jahrzehnten eine beeindruckende Fülle an neuen Erkenntnissen beschert, die uns Aufschluss über das Rätsel des Ichs geben können; und selbstverständlich werden wir im Licht dieser Erkenntnisse einige, wahrscheinlich tiefverwurzelte Ideen über unser Selbst revidieren müssen; womöglich ganz radikale Ideen wie jene eines mentalen Innenraums in unserem Kopf: There is no there in there.
Na und? – Bleiben wir auf dem Quivive gegenüber den Schlüssen, oder besser: den Nicht-Schlüssen der Desillusionierer. Denn aus der Tatsache, dass auf neuronaler Ebene kein „Ich-Modul“ existiert, folgt nicht, dass unsere Gefühle, Absichten, Meinungen, Wünsche, Ängste bloss ein „Jux“ unseres Hirns sind. Der Nicht-Nachweis der Existenz bedeutet nicht den Nachweis der Inexistenz. Die ganze Egophobie ist getragen von diesem kolossalen Fehlschluss.
Der Betrunkene und sein Schlüssel
Eher verhält es sich mit dem Ich so wie mit dem Betrunkenen und seinem verlorenen Schlüssel. Er sucht ihn im Lichtkreis der Laterne, aber er hat ihn im Schatten verloren. Wenn also die Hirnforscher bisher kein neuronales Ich-Modul gefunden haben, könnte das als Hinweis gedeutet werden, dass sie am falschen Ort suchen. Jedenfalls löst man das Rätsel des Ichs nicht, indem man dieses zur Illusion erklärt. Nicht das Ich ist ein Mummenschanz des Hirns – der Desillusionismus ist ein Mummenschanz der Hirnwissenschaftler.