Angesichts der grenzüberschreitenden Natur der islamistischen Ideologie wird es immer deutlicher, dass die Beurteilungen der Lage im
Nahen Osten nicht bloss innerhalb der staatlichen Rahmen der
einzelnen, seit der Kolonialzeit bestehenden arabischen Nationalstaaten durchzuführen sind. Die Geschehnisse greifen über die
alten kolonialen Grenzen hinaus, und sie tragen dazu bei, diese Grenzen zu eliminieren.
IS Hauptträger des neuen Krieges
Zerfallene und zerfallende Staaten haben keine Grenzen mehr. Sie können jedoch sehr wohl Gruppen beherbergen, deren Ideologie und Macht über die fragwürdig gewordenen Grenzen hinausgreift. Kriege in solchen Staaten sind nicht mehr zwischenstaatliche Kriege sondern vielmehr Auseinandersetzungen zwischen Machtgruppen, die in mehreren Staaten um Vormacht kämpfen und bestrebt sind Machtzentren innerhalb mehrer Staaten aufbauen.
Am deutlichsten ist dies im Falle des IS. Der IS spielt zur Zeit eine
Rolle im bisherigen Irak, dem bisherigen Syrien, dem einstigen Libyen,
dem zerfallenden Jemen, dem zusammengebrochenen Staat Somalia, den staatenlosen Weiten der Sahara, die ihrerseits einst zu Algerien,
Libyen, Mali und Nigeria gehört hatten. In Afghanistan ist der IS neuerdings präsent, neben den Rivalen und Kollegen der Taliban, die diesen Staat weitgehend unterminiert haben. Der IS behauptet sogar, einen neuen Zweig in Indien eröffnet zu haben, und Tschetschenen kämpfen in seinen Reihen, vorläufig anscheinend mehr im Ausland als in Tschetschenien.
IS-Aktivitäten in Libyen
Die jüngsten Nachrichten seit dem Jahresbeginn sprechen von einer
Initiative des IS in Libyen. Die IS-Kämpfer haben von ihrem Schwerpunkt in der Stadt Sirte aus Vorstösse Richtung Sidra und Ras
Lanuf unternommen, zwei der wichtigsten Erdölladehäfen Libyens. In
Ras Lanuf befindet sich auch eine Raffinerie. Der IS hat nach eigenen
Angaben den Flecken Bin Jawad, etwa 30 Kilometer westlich von Sidra
und 150 Km östlich von Sirte, am Montag, dem 4.Januar, erobert.
Durch Selbstmordanschläge in mehreren Automobilen zugleich sind IS-Kämpfer nach Sidra und Ras Lanuf vorgedrungen. Sie wurden von dort zurückgeschlagen, kamen jedoch zu einem zweiten Angriff am nächsten Tag wieder. Dabei gerieten den Berichten nach fünf der grossen Erdöltanks in Brand. Der Hafen von Sidra ist nicht mehr aktiv. Doch die Tanks waren mit Erdöl gefüllt geblieben. Sie brennen zur Zeit
noch. Zehn der Wachtleute von Sidra und angeblich 30 der Angreifer
sollen gefallen sein.
Am nächsten Tag, Mittwoch, dem 6. Januar, hat der IS mit einem Suizid- Lastwagen eine ehemalige Armeebasis in Zliten angegriffen, auf der Polizeirekruten ausgebildet werden. In einer gewaltigen Explosion sollen 50 von ihnen getötet worden sein, 127 seien verwundet. In Tripolis wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, um die Verwundeten in den Spitälern der Stadt aufnehmen und behandeln zu können, wie der Gesundheitsminister der dortigen Regierung mitteilte. Dieser Aufsehen erregende Angriff dürfte der Versuch einer Ablenkung
gewesen sein. Dazu bestimmt, die Milizen und selbst ernannten Behörden von Tripolis und Misrata zu beschäftigen, während der IS seine Bemühungen fortsetzt, sich der Erdölinstallationen an der Syrte zu bemächtigen.
Herr der Erdölhäfen - wie lange?
Die beiden Erdölhäfen werden verteidigt durch die dortigen Wächter und lokale Hilfskräfte. Ein gewisser Ibrahim Jadran kommandiert sie.
Politisch steht Jadran für eine Trennung zwischen Tripolitanien und
der Cyrenaika ein. Er ist deshalb ein Feind der beiden Rivalen-Regierungen von Tripolis und von Tobruk, die beide beanspruchen, ganz Libyen zu regieren.
Doch angesichts der Bedrohung durch den IS hat Jadran ein Bündnis mit Tripolis und Misrata abgeschlossen und um Hilfe aus diesen Städten ersucht. Er sagt, mit Haftar, dem General von Tobruk, wolle er auf keinen Fall zusammenarbeiten. Flugzeuge aus Misrata kamen den Kräften Jadrans zu Hilfe. Dies zwang die IS-Kämpfer, ihre Automobile zu verlassen und zu Fuss weiterzukämpfen. Es heisst, auch Haftar habe seine "Luftwaffe" nach dem Erdölhafen Brega verlegt, um in die Lage zu kommen, ebenfalls in Ras Lanuf und Sidra gegen den IS einzugreifen. Doch diese Informationen sind ungewiss.
Die Einnahme von Bin Jawad durch den IS bestätigte sich. Es gibt neue
Berichte von Einwohnern, die besagen, IS habe dort 150 Personen
festgenommen. Sie würden der Zusammenarbeit mit der Regierung von
Tripolis bezichtigt. Man erwarte jederzeit ein Massaker. Die Bewohner
von Bin Jawad fürchten auch, dass ihre Ortschaft zum Kampfplatz
zwischen dem IS und Kräften von Tripolis und Misrata werden könne, durch Truppen oder Bombenflugzeuge.
Der Irak in Fragmenten
Im Irak wurden im vergangenen Dezember die Ruinen der Stadt Ramadi vom IS "befreit", durch Truppen der irakischen Armee unterstützt durch die amerikanische Luftwaffe. Doch es stelllte sich heraus, dass Teile der Stadt und ihrer zerstörten Häuser weiterhin Kampfplätze blieben. Die Truppen der Armee hatten dort verminte Gebiete zu reinigen, und Heckenschützen des IS blieben versteckt, um sie bei dieser ohnehin gefährlichen Arbeit aufs Korn zu nehmen.
Ausserdem begann der IS eine Gegenoffensive, wie immer vorgetragen von Selbstmordattentätern in Automobilen (diesmal sollen es sieben mit Sprengstoff geladene Wagen gleichzeitig gewesen sein). Die Angriffe richten sich gegen die Militärbasen, von denen aus die irakischen Truppen ursprünglich gegen Ramada vorgegangen waren, besonders die grösste von ihnen, welche die Amerikaner ausgebaut und nach einem damaligen Kommandanten "Speicher" getauft hatten.
Dritte Macht in den jementisichen Kämpfen
Auch in Jemen agiert der IS, indem seine Kämpfer den Streit der Saudis mit den Huthis ausnützen. Der Hafen von Mukalla mit seinem Hinterland befindet sich seit Monaten fest in der Hand von al-Kaida. IS- Kämpfer versuchen in Aden Fuss zu fassen. Anfang Januar kam es zu Gefechten im Hafen von Aden. Wer dort zurzeit kommandiert, ist unklar. Eigentlich wären die Truppen und Söldner der VAE zuständig. Doch ihre Kräfte sind ungenügend, um die Millionenstadt zu kontrollieren. Sie werden von den Freiwilligen der südjemenitischen "Volkskräfte" unterstützt. Doch diese Volkskräfte sind infiltriert durch den IS und durch al-Kaida, während es gleichzeitig in der Hafenstadt Häuser, Moscheen und ganze Strassenzüge gibt, die von IS Kämpfern als Verstecke genutzt werden.
Al-Kaida und und der IS sind Rivalen und eigentlich Feinde. Doch wenn es um den Kampf gegen gemeinsame Feinde geht, können ihre Kämpfer auch manchmal zusammenarbeiten.
Weitere Wirkungsgebiete in Afrika
An die komplexe Lage in Syrien und im nördlichen Irak, wo sich das
"Kalifat" des IS befindet, sei hier nur erinnert, weil sie natürlich auch zum Gesamtbild gehört. Der IS und verwandte Gruppen sind auch am Werk auf dem afrikanischen Kontinent wie die Schabab von Somalia, deren Einfluss sich auch auf die nördlichen Teile von Kenia ausdehnt, wo ebenfalls Somali leben. Weiter in Mali, wo französische und internationale Soldaten die Regierung von Bamako zu stützen bemüht
sind, ohne bisher ereicht zu haben, dass die nördlichen Teile des Landes, die der Infiltration aus der Sahara offen stehen, voll abgesichert werden konnten.
Boko Haram in Nord-Nigeria ist eine ursprünglich einheimische radikale
Bewegung, doch sie hat sich mindestens nominell IS angeschlossen und unterstellt.
Neu in Afghanistan
In Afghanistan besteht zur Zeit offene Feindschaft zwischen dem IS,
der neu in das Land einzudringen versucht, und den Taliban, die weite
Teile der ländlichen Regionen Afghanistans beherrschen und zur Zeit
Versuche unternehmen, auch Provinzhauptstädte unter ihre Gewalt zu
bringen. Der IS hat sich offenbar in der Grenzprovinzprovinz Nangarhar
(Hauptort Jalalabad) festgesetzt und versucht auch in Helmand, dem
grössten Anbaugebiet für Opiummohn, einen Stützpunkt zu gewinnen. Es gibt Berichte darüber, dass die Dorfbewohner von Nangarhar die Taliban aufriefen, ihnen gegen den IS zu Hilfe zu kommen.
Der IS soll vier Distrikte von Nangarhar beherrschen. Die Taleban reagierten darauf, indem sie Spezialtruppen nach der betroffenen Provinz aussandten, um IS zu bekämpfen. Doch die Taleban selbst sind zur Zeit gespalten in eine Mehrheit, die dem neuen Taleban-Chef, Akhtar Muhammed Mansur, folgt und eine Minderheit, die sich auf die Familie des früheren, schon vor mehr als zwei Jahren in Pakistan verstorbenen Oberhauptes, Mullah Muhammad Omar, und dessen Familie berufen.
Solche Spaltungen bilden Eingangstore für den IS. Die Strategen des
"Kalifates" halten stets Ausschau nach Möglichkeiten, ihre Feinde und
Rivalen zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen.
Andere grenzüberschreitende Kräfte
Natürlich gibt es auch andere international wirkende Kräfte und Ideologien, die auf die zusammenbrechenden Staaten der arabischen
bisherigen Staatenwelt einwirken. Iran versucht seit der Machtergreifung Khomeinys in Teheran vom Jahr 1979 im Namen der
iranischen Revolution auf die schiitischen Minderheiten in der arabischen Welt einzuwirken. Dies gelang den iranischen Revolutionswächtern zuerst in Libanon, wo sie unter den dortigen
Schiiten Hizbollah aufstellten, ausrüsteten und die Kämpfer ausbildeten. Die Iraner konnten dabei die Aggression Israels gegenüber Libanon ausnützen, die 1982 bis zur Besetzung von Beirut gegangen war. Israel hatte darauf Südlibanon 18 Jahre lang besetzt gehalten, und später als Antwort auf eine Reihe von Provokationen neue Kriege in Südlibanon ausgelöst, besonders 2006.
Der Hizbullah wurde zuerst als Gegenkraft gegen Israel und zur "Befreiung" der südlichen Teile Libanons aufgestellt und gerechtfertigt. "Jerusalem befreien" lautete sein damaliges Schlagwort. Später wurde Hizbullah so sehr Instrument der iranischen Politik, dass es sich zum Kampf gegen die Feinde der Asad-Regierung in Damaskus freiwillig meldete und im syrischen Bürgerkrieg eine bedeutende Rolle übernahm.
Im Irak war es die amerikanische Invasion von 2003, die der iranischen
Politik die entscheidende Öffnung bescherte. Die Amerikaner bewirkten,
dass im Irak die Schiiten die Regierungsmacht übernehmen konnten und öffneten damit der iranischen Einflussnahme Tür und Tor.
Saudi-Arabien tief beunruhigt
Der Machtwechsel im irakischen Nachbarland hatte Folgen in Saudi-Arabien Riad sah sich nun zwei schiitischen Mächten und Streitkräften gegenüber, die beide den eigenen überlegen waren, den iranischen und den irakischen - ehemaligen Feinden, jedoch nun befreundet in schiitischer Kollaboration. Dies löste die grosse Schiitenangst in Saudi-Arabien aus, die heute ebenfalls über alle früheren Landesgrenzen hinweg auf die zerfallenden Staaten einzuwirken versucht.
Diese Furcht, nur leicht verkleidet als Hegemonieanspruch,
bewirkte das Engagement Riads und seiner Freunde am Golf auf Seiten des Widerstands gegen Asad, nachdem die Proteste 2011 in Syrien ausgebrochen waren. Dies weil Syrien seit der iranischen Revolution von 1979 der wichtigste und oftmals einzige arabische Verbündete Irans gewesen und geblieben war. Damaskus diente auch als Verbindungsglied zwischen Iran und Hizbullah in Libanon. Waffen, welche Iran an Hizbullah lieferte, wurden nach Damaskus eingeflogen und dann über die libanesische Grenze gebracht. Dieses Glied möchte Saudi-Arabien sprengen, indem es die Herrschaft Asads und seiner alawitischen Kampfgefährten in Damaskus beendet.
Der Stellvertreter-Krieg in Jemen
Die Schiitenangst in Riad wuchs weiter, als im benachbarten Jemen die
dortigen zaiditischen fünfer Schiiten 2014 sehr plötzlich bis nach Sanaa vorstiessen. Riad sah dies als Beweis, dass Iran sie mit Geld und Waffen unterstütze. In Wirklichkeit war der Umstand, dass die Huthis von dem ehemaligen Präsidenten Ali Saleh Abdullah Unterstützung erhielten, viel wichtiger. Grosse Teile der jemenitischen Armee hielten dem Ex-Präsidenten und dessen Sohn, Ahmed, die Treue - nicht der neuen Regierung unter Abdrabbo Mansur al-Hadi, dessen Befehle sie eigentlich hätten befolgen sollen. Dies war der wirkliche Grund der raschen Machtausdehnung der Huthis aus dem Norden auf fast alle Teile der bewohnten Gebiete Jemens. Doch Riad wollte die "Hand Irans" in Jemen bekämpfen und bekämpft sie bis heute, indem es das Land mit Bomben amerikanischer Herkunft zerstört.
Saudisch-iranisches Ringen um Vormacht
Gesamtergebnis: der iranischen Expansivpolitik via die schiitischen
Minderheiten im arabischen Raum, trat nun die saudische Eindämmungspolitik gegen alle Schiiten im arabischen Raum entgegen. So entstand ein grenzüberschreitendes machtpolitisches Ringen zwischen den beiden Staaten, die sich selbst als Vormacht der Schiiten und als Vormacht der arabischen Sunniten einstufen.
Kurdische Aktivitäten über die Grenzen hinweg
Grenzüberschreitend ist auch die Politik der Kurden. In ihrem Fall ist
dies durch den Umstand gegeben, dass die koloniale Aufteilung des
osmanischen Erbes die Kurden unter vier Staaten aufteilte: Iran,Irak,
Syrien und - als weitaus grösste Masse - Türkei. Die kurdische Politk
schwankt zwischen Autonomiebestrebungen und nationalstaatlichen
Ambitionen. Die heutigen Kurden kamen de facto frei gegenüber zwei
bisherigen Nationalstaaten, Irak und Syrien, dank dem Teilzerfall beider Staaten. Sie stehen noch unter Druck und Kontrolle der Zentralmacht in der Türkei und derjenigen in Iran.
Die PKK kämpft gegen Ankara und wird von Ankara bekämpft, mit einigen Unterbrüchen seit 1984. In Iran sind die kurdischen Landesteile dicht durchsetzt mit Lagern der iranischen Revolutionswächter, so dass sich die Kurden nicht regen können. Die türkische Kurdenpolitk ist
grenzüberschreitend, weil die Türkei die Entstehung eines kurdischen
Staates in Nordsysrien an der bisherigen syrisch-türkischen Grenze
fürchtet und mit allen Mitteln verhindern will.
Auch die kurdische Politik ist grenzüberschreitend, weil die türkische PKK seit Jahren auf der irakischen Seite der bisher irakischen Grenze in den Qandil-Bergen Zuflucht und Unterschlupf gefunden hat, trotz vieler grenzüberschreitender tükischer Artillerie- und Fliegerangriffe mit
Unterbrüchen seit vielen Jahren.
Kurdische Prioritäten
Zwischen der PKK und den Kämpfern der bisher syrischen Kurdengebiete, der YPG (bewaffnete Volkverteidigungskräfte), gibt es enge Zusammenarbeit, ebenfalls grenzüberschreitend. Die YPG können als die "syrische" Filiale der "türkischen" PKK gelten. Die "syrischen" und die "irakischen" Kurden sind wirksame Kämpfer gegen den IS und erhalten dabei amerikanische Luftunterstützung. Doch sie kämpfen um Gebiete und Siedlungen, die sie als kurdische Gebiete
ansehen und die sie deshalb gegen den IS verteidigen. Einige dieser heute von den Kurden verteidigten und besetzten Landesteile beansprucht jedoch die Zentralregierung von Bagdad für sich, insbesondere die umstrittene Erdölstadt Kirkuk mit ihren Oelfeldern.
Über das Erdöl im kurdischen Gebiet und in ihnen vorgelagerten
Landesteilen, wie der heute kurdisch besetzten Kirkuk-Provinz, besteht
auch ein Streit mit Bagdad. Die Zentralregierung beansprucht das
Recht, dieses Erdöl über die staatliche Erdölfirma zu verkaufen und
seine Förderung zu organisieren. Die irakischen Kurden jedoch sind der
Ansicht, dies stehe ihrer lokalen Regierung zu. Zurzeit bringen sie
"ihr" Erdöl auf dem Exportweg über die Türkei auf den Weltmarkt .
Wer wird kämpfen für Mosul?
Wenn es dazu kommen sollte, dass die irakische Armee zur Befreiung
Mosuls vom IS antritt, wird sich die Frage stellen, ob und inwieweit
die kurdischen Kämpfer, bisher die wirksamsten gegen den IS, dabei
mitwirken sollen und wollen. Wahrscheinlich würden sie versuchen,
Konzessionen von Bagdad einzuhandeln, bevor sie die Zentralregierung in nicht von ihnen selbst beanspruchten Landesteilen militärisch unterstützen.
Die Syrienpolitik der Türkei
Die Türkei betreibt auch abgesehen von ihren kurdischen Interessen
eine grenzüberschreitende Syrienpolitik. Diese begann sie, als es 2011
und 2012 den Anschein hatte, der Widerstand werde Asad rasch überwinden. Ankara erwies sich in dieser Annahme als überaus
grosszügig gegenüber den syrischen Flüchtlingen, die es millionenweise in der Türkei aufnahm. Die Türkei beherbergte auch eine syrische Oppositionsregierung, welche zu Beginn die Unterstützung der europäischen und amerikanischen "Freude Syriens" genoss, sich aber später als allzu streitsüchtig und unwirksamn selbst diskreditierte.
Ursprünglich bestand in Ankara gewiss die Annahme, die Flüchtlinge und die Exilpolitiker würden schon bald als Angehörige der künftigen
Sieger nach Syrien zurückkehren. Je weniger dieser erwartete Endsieg
sich einstellte, desto mehr half Ankara unter der Hand den syrischen
Rebellen nach. Dabei gelangte - absichtlich oder gegen den Wunsch der türkischen Regierung? - viel Kriegsmaterial und Geld in die Hände
von radikalen Islamisten, die sich im Verlauf der Kämpfe dem IS
anschlossen oder unterstellten.
Die Ebene der Weltmächte
Schliesslich griffen die beiden Supermächte aus der Zeit des Kalten
Krieges auf entgegengesetzten Seiten in Syrien ein. Zuerst die
Amerikaner mit ihrer Koalition, um den IS zu bombardieren, dann Ende März 2015 die Russen ebenfalls mit ihrer Luftwaffe zu Gunsten des Asad-Regimes, das sie in den Jahren zuvor diplomatisch verteidigt hatten, in erster Linie im Sicherheitsrat der Uno.
Die russischen Bomben und Raketen richteten sich zunächst gegen die gefährlichsten Feinde Asads, das heisst jene Kampfgruppen, die den vom Regime gehaltenen Herzgebieten, Damaskus und Lattakiye, am nächsten standen und sie gefährdeten. Erst in späteren Phasen dehnten die Russen ihre Luftangriffe auch auf IS-Kräfte aus, die überwiegend weiter östlich in Syrien, im Euphrat Gebiet, standen.
Aasgeier an der Leiche von Syrien
Das Schlussergebnis ist, dass um die Überreste des syrischen Staates
auf drei Ebenen gekämpft wird: jener der Regierung und der Rebellen,
auf der Ebene jener Mächte, die lokale Vormacht beanspruchen, Iran und Saudi-Arabien, und auf der Ebene der Weltmächte USA und Russland. Die drei Ebenen gibt es auch im Irak, doch dort fehlen bisher die Russen auf der dritten Stufe. Es gibt allerdings heftig anti-amerikanische Kräfte unter den irakischen Schiitenmilizen, die
versuchen, die Russen auch im Irak einzubeziehen, um den IS zu
bombardieren. Ministerpräsident Haidar al-Abadi hat dies bisher
verhindern können.
Zurückhaltung in Libyen
In Libyen hat es kleinere Einmischungsversuche der Ägypter auf Seiten
der Regierung von Tobruk und der Qatari, Türken und VAE auf Seiten von Tripolis gegeben. Doch die Weltmächte haben sich bisher zurückgehalten und den Vermittlern der Uno die Aufgabe überlassen, die beiden Regierungen wieder zu vereinigen, um darauf - wie sie versprachen - der erhofften "Einheitsregierung" so viel Hilfe zu gewähren, dass sie in die Lage gelangte, den IS in Sidra und in Sirte wirksam zu bekämpfen.
Ob jedoch diese Einheitsregierung zustandekommt, ist nach wie vor
ungewiss. Noch viel ungewisser ist, ob sie dann wirklich soweit zu
regieren vermag, dass sie tatsächlich die Verantwortung für das weitere Geschehen in Libyen übernehmen kann. Dies drohen die vielen Milizen, jede mit ihren eigenen Chefs und Machtambitionen, als das Haupthindernis zu verunmöglichen. Die Einheitsregierung, falls sie zustande käme, müsste sich gegen die Milizen durchsetzen. Dies ist bisher noch keiner der libyschen Regierungen gelungen, die seit dem
Sturz Ghadhafis von Oktober 2011 gebildet wurden.