Deutschland, nein Olaf Scholz, hat die Welt um einen neuen Begriff reicher gemacht: «Zeitenwende». Nicht mehr nur German «Angst», oder «Rucksack», oder «Kindergarten». Aber sind wir den Realitäten einer wirklichen Zeitenwende gewachsen?
«Zeitenwende» – vom Kanzler wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 27. Februar 2022 erstmals im deutschen Bundestag ausgerufen – ist längst in den internationalen Sprachgebrauch eingegangen. So ging, zum Beispiel, dem finnischen Verteidigungsminister bei der 75-Jahr-Geburtstagsfeier der NATO in Washington in seiner auf Englisch gehaltenen Rede das deutsche Wort ganz normal über die Lippen. Eigentlich ein Grund zur Freude, dass wir die Welt mal wieder kulturell bereichert haben. Oder etwa doch nicht?
Bittere Erfahrungen
Wer die sich zurzeit rund um den Erdball vollziehenden Ereignisse nüchtern betrachtet, wird wenig Gründe finden, besonders fröhlich zu sein. Es lässt sich nicht übersehen, dass (selbst in scheinbar gefestigten Demokratien) die Faszination von Freiheit und Eigenverantwortung abnimmt und die Hinwendung zu scheinbar einfachen (allerdings autokratischen) Systemen wächst. Auch bei uns zwischen Rhein und Oder. Dass, trotz scheinbar fest geknüpfter internationaler Verträge, wieder Kriege wie nichts vom Zaun gebrochen werden, ist eine ebenso lange nicht mehr für möglich gehaltene wie bittere Erfahrung. Dass, nach der Aufbruchstimmung in den 90er Jahren, das beispiellose Erfolgsprojekt Europa an Zustimmung einbüsst und sinnlose nationalistische Parolen fröhliche Urständ feiern, lässt am Verstand der Bürger zweifeln.
Wir hatten in der jüngeren Vergangenheit schon einmal eine Zeitenwende – eine wirklich historische. Vor 35 Jahren, als der Sowjetsozialismus zusammenbrach, die Völker Mittelost-, Südost- und Osteuropas ihre Freiheit erkämpften und Deutschland – nach mehr als 40 Jahren nationaler Spaltung – wiedervereinigt wurde. Man verwandte seinerzeit den Begriff Zeitenwende nicht. Aber Spitzenpolitiker wie einfache Bürger glaubten, aus gutem Grund, dass sich etwas ändern und die Welt besser werde. Es wurde abgerüstet, was das Zeug hielt, weil doch wohl der ewige Friede ausgebrochen war.
Brüchige gute Jahre
Streitkräfte modern und schlagfähig halten, so wie ja schliesslich auch die Feuerwehr nicht abgeschafft wird, wenn es nicht brennt – absurde Idee. Weh dem, der es in jenen Jahren des Umbruchs, bei aller Freude über das Ende des Kalten Krieges, wagte, einfach einmal daran zu erinnern, dass kein Zustand für die Ewigkeit geschaffen ist – getreu Friedrich Schillers Wilhelm Tell: «Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.» Schimpf und Schande wären (und sind ja auch) über ihn ausgegossen worden.
Wer wollte in den 90ern denn gern aus seinen süssen Friedensträumen aufgeweckt werden? Schliesslich ging es doch gerade in jenem Jahrzehnt in «Europa» wunderbar vorwärts. Jacques Delors war EU-Kommissionspräsident – der beste, den die Union je hatte. Helmut Kohl und Jacques Mitterrand zogen an einem Strick und brachten die Politik der Gemeinschaft ordentlich voran. Manfred Wörner, der deutsche Nato-Generalsekretär, wurde bis zu seinem Tod nicht müde, das Verhältnis zu Russland auf eine neue, stabile Basis zu stellen.
Ja, es waren gute Jahre. Und doch musste eigentlich jeder, der sehen und hören konnte, merken, wie brüchig dieser scheinbar ewige Friede war. Spätestens nach Ausbruch des Bürgerkrieges im zerfallenden Jugoslawien, wo sich Nationalismus, Religions-Gegensätze und blankes Machtstreben wie eh und je brachiale Bahn brachen.
«Lieber rot als tot»?
Und jetzt? Ja, was jetzt? Jetzt haben wir das längst überwunden geglaubte Schlamassel. Putins Krieg hat nicht nur die Ukraine, sondern die ganze freie Welt herausgefordert. Nicht bloss das verteidigungsmässig praktisch nackt dastehende Europa erlebt eine neue Hochrüstung. Die Nato beschliesst, als Antwort auf Putins Drohungen wieder Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in Mitteleuropa aufzustellen. Im Prinzip stehen wir vor der Situation wie in der von Spannungen aufgeladenen Zeit der sogenannten Nato-Nachrüstung zu Beginn der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als zum Beispiel Hunderttausende auf dem Bonner Hofgarten gegen die Stationierung amerikanischer Pershing-Raketen als Antwort auf die sowjetischen SS-20 demonstrierten.
Eine der seinerzeit ganz häufig gehörten Losungen aus der Masse der Demonstranten lautete «Lieber rot als tot». Es ist richtig – die Geschichte wiederholt sich nicht im Verhältnis 1 zu 1, aber manchmal doch in groben Zügen. «Lieber rot als tot» bedeutet doch nichts anderes als die grundsätzliche Bereitschaft, im Zweifelsfall um des Lebens willen lieber auf die Freiheit zu verzichten. Tatsächlich ist Freiheit wohl nicht alles. Aber ohne Freiheit ist ganz gewiss alles nichts. Wladimir Putin, dem mit allen Tricks des Geheimdienstes vertrauten Kreml-Chef, ist die Bereitschaft in Deutschland, innerhalb kürzester Zeit in Angst und Panik zu verfallen, sehr wohl bekannt. Warum sonst droht er – der Kriegstreiber – nahezu täglich mit immer schlimmeren Militärschlägen? Der Adressat ist praktisch immer Deutschland; sämtliche anderen europäischen Nationen scheinen unempfindlicher zu sein als die furchtsamen Deutschen.
Zwischen Wohlstand und Verzicht
Zumal die Einschüchterungstaktik ja fraglos funktioniert. Nicht zufällig fallen die «Friedensappelle» der rechtsnationalen AfD und der Ex-Linken Sahra Wagenknecht auf fruchtbaren Boden? Man muss bei der Prophezeiung ja nicht unbedingt zu den Schwarzmalern gehören, dass die fetten Jahre der Wohlstands-Zuwächse zu Ende gehen – falls sie überhaupt noch existieren. Zwar fahren noch immer jährlich Millionen Deutscher ungebremst zum Urlaub bis in die exotischsten Gegenden. So, als habe sich nichts geändert. Zwar wächst die Zahl der Bettler von Tag zu Tag in den Städten. Doch irgendwie, wenn man Augen und Ohren verschliesst, erscheint die Welt durchaus noch in Ordnung.
Was aber wird sein, wenn tatsächlich einmal Verzicht unausweichlich werden sollte? Was wird dann werden mit unserer von Wohlstand verwöhnten Friedensgesellschaft. Ist sie dabei zu begreifen, dass «Zeitenwende» nicht bloss ein Modewort, sondern eine höchst unangenehme Tatsache ist?