Der Irakkrieg wird heute allgemein als Misserfolg gesehen: für die Amerikaner, welche rund 4500 Soldaten, internationales Prestige und viel Geld verloren und dennoch dem Erzfeind Iran mehr Einfluss im Nachbarland verschafften; für alle jene, die auch in arabischen Ländern an eine Demokratie glauben, die helfen würde, die tiefe Spaltung innerhalb des Islams zwischen Sunna und Shia zu überwinden; und natürlich für die Iraki selbst, welche die Hauptlast trugen und tragen, namentlich mit sicher über 100’000 Opfern.
So einfach ist indes Geschichte, und speziell diese Geschichte, nicht. Eine vorurteilslose Analyse muss versuchen, differenzierte Antworten insbesondere auf drei Fragen zu formulieren: War der Krieg gerechtfertigt, war er legal, und hat er sich gelohnt? In einem ersten Teil wird nun auf die Rechtfertigung eingegangen.
Ungewissheit über Massenvernichtungswaffen
Als eigentlichen casus belli zur Rechtfertigung eines Angriffskrieges führten die USA und ihre Alliierten die irakischen Massenvernichtungswaffen (WMD) ins Feld. Wie wir heute wissen, gab es im Irak Anfang des Jahrtausends nur noch wenige chemische und biologische Kampfstoffe. Auch bestand die Fähigkeit zur atomaren Bewaffnung nurmehr theoretisch. Und schliesslich waren die irakischen Trägerraketen für WMD dem US-Schirm über dem persischen Golf und der arabischen Halbinsel hoffnungslos unterlegen.
Vor dem Krieg war dies keineswegs so klar, auch nach allen UNO-Kontrollen im Irak zwischen 1991 und November 1998 (Operation «Desert Fox» unter Präsident Clinton und basierend auf dem Iraq Liberation Act des amerikanischen Kongresses, der schon damals, unter internationalem Applaus, einen Regimewechsel als einzige Lösung des Irakkonflikts vorsah) und vom Herbst 2002 bis zum Einmarsch der Alliierten im März 2003. Niemand wusste wirklich Genaues, eingeschlossen die UNO-Experten, unter ihnen auch Spezialisten vom ABC-Labor in Spiez.
Skrupellosigkeit des Saddam-Regimes
Iraks WMD-Kapazität und die Bereitschaft des Saddam-Regimes, diese einzusetzen, waren unbestritten. Dies einmal im Krieg zwischen Iran und Irak in den 80er Jahren gegen die jungen persischen Gotteskrieger, aber auch im eigenen Land: In diese Tage fallen nicht nur die zehn Jahre seit dem Sturz Saddams, sondern auch die 25 Jahre seit Saddams Giftgas-Einsätzen zur Ausradierung der gesamten völlig ungeschützten Bevölkerung von Halabja, einer irakischen Grenzstadt zum Iran mit kurdischstämmiger Bevölkerung. 4000 Menschen, meist Frauen und Kinder starben direkt, rund 11’000 Verletzte trugen oft unheilbare Verbrennungen und Verätzungen der Atemwege davon. Noch heute werden in der Region schwer missgebildete Säuglinge geboren.
Die generelle irakische Bedrohung war auch für mich erlebte Realität. Von 1998 bis 2002 arbeitete ich mit der ganzen Familie, eingeschlossen zwei Kleinkinder, in offizieller schweizerischer Mission in Kuwait. Kuwait City liegt gerade mal vierzig Kilometer von der irakischen Grenzstadt Basra entfernt weiter unten am Golf. Die nicht nur theoretische Möglichkeit eines AB-Angriffs aus dem Norden bestand täglich; einmal pro Monat übten wir auf der Botschaft mit der Schweizerkolonie das korrekte Anziehen von Masken und Schutzanzügen, sowie das – hoffentlich – gasdichte Abschotten von Rückzugsräumen.
«Right to protect»
Hier liegt die wichtigste Begründung, warum der Sturz von Saddams Regime, wenn nötig via eine Militäraktion, grundsätzlich gerechtfertigt war. Unter Experten wird das zusammengefasst und heiss diskutiert als «R2P», the right to protect. Ausgedeutscht meint dies das Recht der internationalen Gemeinschaft, die Bevölkerung eines an sich souveränen Staates vor dem eigenen Regime zu schützen, wenn sich letzteres unterhalb einer sehr tief angesetzten Toleranzschwelle von Gewalt, Ungerechtigkeit und Massenmord im eigenen Lande bewegt.
Saddam und sein Mörderclan der Al Tikriti lagen klar unter dieser Schwelle. Dies sah ich in Kuwait, das ja die Iraki, angeblich als Teil ihrer historischen Stammlande, im August 1989 besetzt und «ins Reich zurückgeholt» hatten. Sie hatten dort gehaust wie die Nazis in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs. In den paar Monaten, bevor Kuwait von einer amerikanisch geführten, international praktisch einhellig unterstützten Aktion im März 2000 wieder befreit wurde, ermordeten, folterten und entführten Saddams Schergen zahllose Kuwaiti; dies einmal ganz abgesehen von Ausländern, die von Saddam als lebende Schutzschilde missbraucht wurden. Auch zu unserer Zeit in Kuwait, rund zehn Jahre danach, waren die Wunden keineswegs verheilt. Dank ihrem Ölreichtum hatten die Kuwaiti zwar ihre materielle Wunderwelt aus Tausendundeiner Nacht wieder aufgebaut; aber kaum eine Familie trug nicht am Trauma erschossener, zu Tode gefolterter oder auf immer in Saddams Verliessen in Bagdad verschwundener Angehöriger.
Prinzip der verbrannten Erde
Unvergessen bleibt mir das Schicksal von «Oscar», einer Lichtgestalt innerhalb der rund 150-köpfigen Schweizer Kolonie in Kuwait. Oscar befand sich zwar im August 1989 zufälligerweise in der Schweiz, eilte dann aber als Techniker und Angestellter des prinzlichen Hofes der Al Sabah unmittelbar nach der Befreiung Kuwaits zurück, um an vorderster Front mitzutun bei der Eindämmung der Naturkatastrophe des Ölquellenbrands; Saddam hatte, so wie das Hitler mit Paris tat, vor dem irakischen Rückzug noch den Befehl gegeben, «Kuwait anzuzünden», was bekanntlich im Unterschied zu Paris 1944 auch tatsächlich passierte.
Unter unseren Augen starb Oscar, sportlicher Nichtraucher, zehn Jahre später eines qualvollen Todes an Lungenkrebs. Der behandelnde Chefarzt am Hirslanden sagte mir nach meinem Abschiedsbesuch bei Oscar, dass dessen von ein paar Wochen Aufenthalt in dichtem Ölrauch geschädigte Lungen schlimmer ausgesehen hätten als jene eines lebenslänglichen Kettenrauchers.
Indes geht es hier nicht um persönliche Empfindlichkeiten, sondern um die Vergegenwärtigung damaliger Sachverhalte, die einzig dazu dienen können, meine eingangs als erstes gestellte Frage zu beantworten: War der Krieg von 2003 gerechtfertigt?
Diktatur hat jegliche Zivilgesellschaft eliminiert
Nicht zu erörtern ist hier der Einwand, warum nur Saddam unter R2P fiel und nicht andere auch. Heute gehört sicher Assad in Syrien in die gleiche Kategorie nicht zu duldender Kriegsverbrecher. Indes kann das internationale Versagen in einem Fall wie es das momentane Unvermögen darstellt, die syrische Zivilbevölkerung vor dem eigenen Regime zu schützen, nicht als Versagen des Prinzips an sich gedeutet werden. R2P ist ein Fortschritt im internationalen Recht und wird zweifelsohne auch in der Zukunft wieder angerufen werden müssen. Zu denken ist etwa an Nordkorea oder ein Despotenregime auf dem afrikanischen Kontinent.
Ebenfalls in ein anderes Kapitel gehören die Fehler und Irrtümer der Alliierten und speziell der amerikanischen Verwaltung unter Präsident George W. Bush. Sie machten nach der raschen Niederwerfung des halbherzigen Widerstandes der Truppen Saddams und dessen Sturz vieles falsch: zu wenige Besatzungstruppen, kein Schutz von Infrastruktur und nationalen Kulturgütern vor Plünderern und Terroristen, unterschiedslose «De-Baathisierung» aller Staatsorgane etc. Hier muss allerdings ebenso beigefügt werden, dass sich kaum jemand vorstellen konnte, wie radikal auch die geringsten Ansätze einer staatstragenden Zivilgesellschaft im Irak von der Jahrzehnte dauernden Schreckensherrschaft Saddams zerstört worden waren.
Die weiteren Fragen, speziell jene nach der Legalität und ob sich der Krieg gelohnt hat, werden in einem zweiten Beitrag behandelt. Zum Abschluss dieses ersten Teiles halte ich als höchstpersönliches, aber teilweise selbsterlebtes Fazit fest, dass die Antwort auf die erste Frage nach der Rechtfertigung «eher ja» lauten muss.