Das Textilmuseum St. Gallen bietet den Kreationen des Modedesigners Albert Kriemler eine Bühne und erzählt die Geschichte seines Werdegangs: von den sorgfältig gearbeiteten Schürzen seiner Grossmutter zu jenen Kleidern, die zu einem Symbol für zurückhaltenden Luxus geworden sind.
Als 2021 die Coronakrise mit der Stadt St. Gallen auch die Firma Akris an der Felsenstrasse zum Innehalten zwingt, unternimmt ihr künstlerischer Leiter Albert Kriemler einen Spaziergang. Er schaut sich die Stadt an, in deren Mitte zuerst seine Grossmutter, später sein Vater und seit 1980 er selbst eine Firma gross gemacht haben, die heute Weltgeltung geniesst und ihre Kreationen zwei Mal im Jahr in Paris an den Prêt-à-porter-Schauen zeigt – als einziges Label aus dem deutschsprachigen Raum.
Und er kommt bei diesem Spaziergang auf eine Idee: Warum dieser Stadt, in der er sich wohl und auch sehr geschätzt fühlt, nicht eine ganze Kollektion widmen? Das tut er, indem er mit Ausschnitten des Stadtplans und anderen Insignien der Stadt arbeitet – etwa dem Muster des Daches der Kirche St. Laurenzen auf einem Mantel aus Wollstickerei. Auch die dabei verwendete wichtigste Farbe trägt einen sanktgallischen Namen: Gallus Green.
Verwurzeltsein in der Heimat
So beginnt im Hochparterre und im Aufgang zur ersten Etage jene Ausstellung, die Albert Kriemler zum Hundertjahr-Jubiläum von Akris im Textilmuseum St. Gallen entworfen hat: mit der Heimat, mit dem Verwurzeltsein in einer Welt, in der das Textile seit Jahrhunderten eine ganz wichtige, wenn auch immer wieder von Krisen heimgesuchte Rolle gespielt hat und noch immer spielt.
An einer Hörstation erzählt Kriemler, wie er, als er 1980 in die Firma kam, die er heute zusammen mit seinem Bruder Peter leitet, an das anknüpft, was seine acht Jahre zuvor verstorbene Grossmutter geschaffen hatte. Sie habe in ihrer Schürzenproduktion immer wieder auch mit Spitzen gearbeitet, das habe er aufgegriffen, erzählt er. Überhaupt habe er auf wertvollere Materialien gesetzt, habe zuerst mit dem einen oder andern Sticker vor Ort Versuche gemacht, und dann, als nach der Jahrtausendwende Paris aktuell wurde, selber Stickereien entworfen. «Das schien meinem Vater oft teuer», fügt er lakonisch an, «aber ich fand es richtig, in St. Gallen zu bleiben und nicht auch nach Indien zu gehen.»
Eine Näherin macht sich selbständig
Der Name der Grossmutter fällt keineswegs zufällig. Denn Alice Kriemler-Schoch ist mit den Anfangsbuchstaben ihres Namens nicht nur Namensgeberin des Unternehmens. Sie hat mit Energie, Fleiss und Ideenreichtum das Unternehmen geprägt – und mit jenen klaren Formen, die bis heute ein Markenzeichen von Akris sind. Auf sie geht auch jenes enorme Archiv an Stickereimustern zurück, das im Aufgang zur ersten Etage zu besichtigen ist.
Alice Kriemler-Schochs Geschichte und jene ihrer Rheintaler Arbeiterinnen erzählt die Autorin Jolanda Spirig in ihrem 2012 im Chronos-Verlag erschienenen Buch «Schürzennäherinnen – Die Fabrikantin und die Kriessner ‘Mädchen’». Die Autorin schöpft auch aus den Tagebüchern der Unternehmerin, die noch mit 63 Jahren beschliesst, Autofahren zu lernen, und das auch durchzieht.
Ihr Handwerk lernt die 1896 als Alice Schoch auf einem Bauernhof zur Welt Gekommene in der Schürzen- und Blusenfabrik einer Tante. Die Schürze ist damals ein schönes Bekleidungsstück, gewissermassen das Markenzeichen der arbeitenden Frau, die eine Werkstags- und eine Sonntagsschürze hat. Und: Sie ist noch für Jahrzehnte ein ganz wichtiges Produkt der Ostschweizer Textilindustrie. Fünf Jahre arbeitet Alice Schoch in der Schürzen- und Blusenfabrik, dann spart sie sich das Geld für eine Nähmaschine zusammen, macht sich selbständig, und heiratet 1921 den zwölf Jahre älteren Albert Kriemler.
«Erste Bestellungen von Globus»
Er ist in der Chemiebranche als Vertreter tätig, nimmt aber schon bald die Schürzen seiner Frau mit auf die Verkaufstouren. Im Mai 1922 kommt der Sohn Max zur Welt, im Juli wird die Firma im Handelsregister eingetragen. Sie floriert, sogar in der Krise. «Erste Bestellungen von Globus St. Gallen, Basel, Aarau», notiert die Unternehmerin am 2. November 1935. Die Zahl der Näherinnen steigt stetig, 1939 erwerben die Kriemlers die Villa Fels über der St. Galler Altstadt und ein daneben liegendes grosses Geschäftshaus samt Remise und Stallungen, wo im 19. Jahrhundert Pferde und Kutschen untergebracht waren.
1944 stirbt Albert Kriemler ganz überraschend an einem Herzinfarkt, Sohn Max übernimmt seinen Part, obwohl er andere Pläne hat. Und will schon bald nicht mehr weg. Die Geschäfte gehen gut, «das Credo von Alice Kriemler-Schoch zahlt sich aus», schreibt Jolanda Spirig: «Sie setzt auf hohe Qualität und damit auf eine straffe Führung der rund vierzigköpfigen Belegschaft. Gleichzeitig hat sie ein offenes Ohr für die privaten Probleme ihrer Mitarbeiterinnen.» Die beiden ersten Näherinnen sind gleichzeitig als Kinderfrauen beschäftigt.
Das Sortiment verbreitert sich. Neben Träger- und Servierschürzen für Gasthäuser, Bäckereien und Metzgereien werden Trägerkleider und Kleider aus reiner Baumwolle für Bäuerinnen gefertigt, ausserdem Barchentkleider für den Winter. Doch die Margen bei den Schürzen sind klein, Max Kriemler forciert die Kleider- und Blusenproduktion.
1949 überträgt ihm die Mutter die unternehmerische Verantwortung, bleibt aber bis zu ihrem Tod 1972 sehr präsent. Sie nimmt ihre Schwiegertochter Ute freundlich im Kreis der Familie auf, führt sie gleich auch noch ins Handwerk ein und notiert am 7. Februar 1960: «11.10 kam das Albertli. Welche Freude! Es war etwas lang gegangen, aber doch gut.»
«Meine Grossmutter hatte ein extrem schönes Verhältnis zu meiner Mutter», erinnert sich Albert Kriemler. «Sie war gerne bei uns, drängte sich aber nie auf und zog sich zurück, wenn sie dachte: ‘Jetzt braucht es mich nicht.’» Für den Enkel wurde sie sehr prägend – auch in modischer Hinsicht. «Biederkeit hat es bei Alice Kriemler nie gegeben», sagt er gegenüber Jolanda Spirig. «Sie hatte eine hohe Sensibilität für Stoffe und Qualität.»
Im Dunkeln leuchtende Stoffe
Man begegnet dieser Sensibilität wieder in dem, was der Enkel im Textilmuseum St. Gallen von sich selber präsentiert. Er hat gemacht, wofür seine Eltern keine Zeit hatten, ist in Museen und Galerien gegangen, hat eine Passion für Architektur entwickelt – und all dies einfliessen lassen in wunderbar leichte Kreationen, die oft mit Guipure, der vor 140 Jahren in St. Gallen entwickelten Ätzstickerei arbeiten.
Nichts ist unmöglich, wenn es nur schön ist. Diesen Eindruck vermittelt die obere Etage der Ausstellung, die unter anderem von einem Besuch beim Künstler Imi Knoebel im Mai 2020 erzählt, der für seine phosphoreszierenden Werke bekannt ist. Sie haben Albert Kriemler zu seiner Entwicklung von im Dunkeln leuchtenden Stoffen inspiriert, die zum Highlight der Frühjahr-Sommer-Kollektion für 2021 werden. Ein Lichtblick im ersten Jahr der Pandemie.
Textilmuseum St. Gallen: Akris – St. Gallen, selbstverständlich.
Bis 10. März 2024