Wie entsteht eigentlich Zusammenhalt, wie Identität? Das sind Fragen, die an ungewohntem Ort auftauchen: an der Schweizer Messe für Landwirtschaft und Ernährung, kurz Olma, in St.Gallen, die am Sonntag zu Ende geht. Dort stehen die Zeichen nur auf den ersten Blick vor allem auf Konsum.
«Nehmen Sie, es ist gratis», ruft uns der Verkäufer in der Olma-Halle 3 nach, und drückt mir ein kleines, grellrotes Plastikding in die Hand. Unten hat es scharfe Zacken, oben einen Ausguss. Man kann es in eine Zitrone rammen und so ihren Saft ernten. Es handelt sich, mit anderen Worten, um eine ungemein wichtige Erfindung. Doch nicht genug damit: «Kommen Sie nächstes Jahr wieder», sagt der Verkäufer noch, «dann haben wir eine Weltneuheit.»
Ein kurioses Sammelsurium
So macht man das an der Schweizer Messe für Landwirtschaft und Ernährung – kurz: Olma – in St. Gallen, die gerade in die letzten Tage ihrer 81. Austragung geht: Man weckt Interesse und präsentiert kleine Geschenke. Gummibärli, Biberli, Kugelschreiber, Trinkflaschen, Schreibblöcke – gern mit der passenden Aufschrift: «Energie für Sie. Gut fürs Leben», schreibt das Energieunternehmen. «Wir pflegen jedes Feld mit Liebe», versprechen die Bäuerinnen und Bauern. Und dass sich vor dem Stand des Werkzeuggeschäfts immer wieder stattliche Menschentrauben bilden, hat einen einfachen Grund: Hier wird Bier ausgeschenkt.
Es ist ein buntes, manchmal kurioses Sammelsurium von Angeboten, das sich in den zehn Messetagen zusammenfindet. Möbel und Teppiche, Autos und Staubsauger, Küchenbedarf und Kippfenster, Kleider und Massagegeräte, Werkzeuge und Insektenschutz, Heimelektronik und Ofenbau, Whirlpools und Blumenzwiebeln – wenig, was es hier nicht zu besichtigen und zu kaufen gibt.
Und, soweit es essbar ist, auch zu probieren. Die neueste Halle ist ganz den kulinarischen Erzeugnissen der Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft gewidmet. Und der Information über dieselbe. Die Schweiz wäre ein Wald, wenn es die Landwirtschaft nicht gäbe. Sie liefert Milch, macht daraus Butter, Quark, Käse. Einmal im Tag kann man sogar zuschauen, wie Butter entsteht.
Ein Kind des Zweiten Weltkriegs
Die Olma ist ein Kind des Zweiten Weltkriegs. 1943 wurde sie als «Ostschweizerische Land- und Milchwirtschaftliche Ausstellung» – daher die noch immer gebräuchliche Abkürzung – in einer Zeit grosser Not gestartet. Die eingeschlossene und von Lebensmittellieferungen aus dem Ausland abhängige Schweiz sollte ihren Selbstversorgungsgrad verbessern. In der sogenannten «Anbauschlacht» wurden die Ackerfläche vergrössert und Anbaumethoden stark verbessert. Dem Bemühen, den Kontakt von Stadt und Land enger zu gestalten, diente 1941 eine erste Landwirtschaftsausstellung, aus der dann 1943 die Olma hervorging. 1946 wurde sie vom Bundesrat als schweizerische Messe anerkannt.
Ihr Vertreter oder ihre Vertreterin ist es auch, die der Olma heute nationalen Glanz verleiht. So taucht denn am 10. Oktober, dem Eröffnungstag, Bundespräsidentin Viola Amherd gutgelaunt auf und bekommt ein braves Säuli in die Hand gedrückt – für die Fotografen. Leonie, das dafür vorgesehene Tier, erweist sich als zu nervös; es wird routiniert gegen einen geeigneten Ersatz ausgetauscht.
Die Kinder sind überall
Es ist kein Zufall, dass der bundesrätliche Rundgang in der Halle 7 beginnt, bei den Tieren. Unten liegen oder stehen die grossen, oben die kleinen Tiere, man kann sie streicheln oder respektvoll mustern wie Zibu, den riesigen, aber sehr friedlichen Muni. Oben sind gerade die Kinder beim Gitzi-Schöppeln, während ihnen unten ein Tierarzt erklärt, wie ein Kalb zur Welt kommt und was dabei alles schief gehen kann.
Überhaupt die Kinder. Sie sind überall, und überall willkommen. Keine Halle, die nicht ihre besonderen Angebote bereithält. In Halle 9 können sie zum Beispiel zeichnen oder auf einen Holzturm klettern und hinuntersausen. Draussen gibt es einen gut besuchten Seilparkgarten, direkt über den beiden grossen Präsentationen von Obst und Gemüse aus der Region. Drinnen hat sich der Gastkanton ganz in grün in einer Art grossem Wohnzimmer niedergelassen: Nachdem der ursprünglich vorgesehene Tessin ausgestiegen ist, musste der Heimatkanton St. Gallen selbst in die Bresche springen und 1,4 Millionen locker machen für Ausstellung und grossen Umzug am ersten Olma-Sonntag.
Zähneknirschend, denn schon im Herbst 2023 musste sich der Kantonsrat dazu bequemen, ein Darlehen von knapp 17 Millionen Franken in Eigenkapital umzuwandeln. Die Coronakrise und die Mega-Investition für die neue Halle 1 von 120 Millionen Franken belasten das Unternehmen noch immer, und von den bis Ende 2024 angestrebten 20 Millionen Franken zusätzlichem Eigenkapital fehlen noch immer 7 Millionen. Andererseits: Dass der Standortkanton seine Prestigeveranstaltung hängen lässt, mag man sich auch nicht vorstellen.
Individualistischer Alltag und kollektives Erleben
Zu sehr entwickeln nämlich diese zehn Tage auch ihre gesellschaftliche Kraft. Wenn man sich einmal auf den Hauptplatz vor die Arena stellt, wenn man die Gruppen und Familien betrachtet, die einem da entgegenkommen, essend, trinkend, vor allem aber angeregt plaudernd, dann glaubt man sofort, dass hier ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, ja von Heimat entstehen muss. Die Olma ist der Treffpunkt, für Jung und Alt, und wer um 18 Uhr, wenn die Ausstellungshallen schliessen, noch nicht genug hat, feiert in den Degustationshallen 4 und 5 weiter, wo die Weinproduzenten und Bierbrauer ausschenken. Oder in den Clubs und Festzelten ausserhalb des Messegeländes. Oder auf dem Jahrmarkt vor seinen Toren.
Im Alltag mag man heute ganz individualistisch leben. Jeder und jede mag eigene Wege gehen, gern auch separiert nach Generationen. Man mag sich im Internet tummeln und dabei auch ein wenig vereinsamen. Die Olma dagegen ist der Ort eines Intensivkontakts, und noch immer – oder erst recht – für viele ein tiefes Bedürfnis. Hier begegnen sich bäuerliche Tradition und moderne Gesellschaft.
Von Namibia in die Schweiz
In seiner «Naturgeschichte der Gesellschaft», die der Anthropologe Mark W. Moffett unter dem Titel «Was uns zusammenhält» vor einigen Jahren im Verlag S. Fischer veröffentlicht hat, erzählt er von einer Reise nach Namibia. Von einer magischen Nacht, in der er den unter einer «wie mit dem Meissel gehauenen Milchstrasse» versammelten Buschleuten zugehört hat. Ihre Stimmen klangen «so kunstvoll wie die von Vögeln, voller Klicks, schwirrender Geräusche und Gezwitscher». Ihre Hütten waren bei den flackernden Lagerfeuern der Familien kaum zu sehen, «während sie sowohl traditionelle Geschichten als auch Tagesereignisse voller Elan und mit Augenblicken der dramatischen Schauspielerei austauschten». Und «was sie erzählten, bestärkte die Verbindung der Menschen mit der umfassenderen Gesellschaft».
So funktionieren traditionelle Gesellschaften. Wir moderne Menschen setzen uns nicht des nachts vor unsere Hütten und erzählen einander Geschichten. Aber unsere Lagerfeuer haben wir dennoch, denn der Mensch bleibt ein zutiefst soziales, auf Gemeinschaft ausgerichtetes Wesen. Die Olma ist ein solches Lagerfeuer.