Zehntausende waren am Freitag auf die Römer Piazza San Giovanni in Laterano geströmt. Nach Angaben der Organisatoren waren es 800‘000. Wahrscheinlich waren es etwa 100'000. Der „Grillo-Tsunami“, der vorher über Turin und Mailand schwappte, hatte jetzt Rom erreicht. „Wir sind die erste politische Kraft geworden“, ruft Grillo. „Ihr Politiker, geht nach Hause, eure Zeit ist abgelaufen, ein neues Italien ist geboren, ein wunderbares Italien."
Grillo führt sich schon auf wie ein römischer Kaiser. Was ihm nicht passt, vertreibt er. Italienische Journalisten durften zunächst nicht in seine Nähe, nur ausländische. Protestierende italienische Medienvertreter liess er von eigenen Ordnungskräften entfernen. „Er hat Angst vor unbequemen Fragen“, schreit ein Ausgeschlossener. „Ist er denn Mubarak?", fragt ein anderer. Böse Worte fielen: „Grillinischer Rassismus, Apartheid.“ Und: „Grillo ist ein Faschist.“ Die Polizei fürchtete Tumulte und ermöglichte es dann schliesslich auch den italienischen Medienvertretern, sich dem lockigen Tribun zu nähern.
Schon am Mittag hatten sich Tausende Grillini (Grillen, Anhänger von Grillo) auf dem Platz versammelt. Viele kamen aus Nord- und Süditalien. 200 Busse standen im Einsatz. Die Veranstaltung hätte um 18.00 Uhr beginnen sollen. Doch Grillo liess sie im Regen warten. Kurz vor 21.00 Uhr trat er dann auf.
Für sein Schlussspektakel wählte Grillo ausgerechnet einen Platz, der der Linken gehört. Hier auf der Piazza San Giovanni fand das riesige Begräbnis des legendären Kommunistenführers Palmiro Togliatti statt. Hier sprach auch immer wieder KPI-Führer Enrico Berlinguer. Es wird angenommen, dass Grillo vor allem den Rechtsparteien Stimmen abjagt. Jetzt will er offenbar auch im linken Lager Stimmen fischen.
Der Riesenerfolg, den Grillo und sein „Movimento 5 stelle“ auf den italienischen Plätzen erzielt, ist eine schallende Ohrfeige für die klassischen italienischen Parteien. Ihnen, weder der Linken noch der Rechten, traut man nichts mehr zu.
Falsche Umfragen werden gestreut
Dass die „5 Sterne“ zur stärksten politischen Kraft werden, wie Grillo behauptet, scheint aus heutiger Sicht nicht realistisch. Doch der „Grillo-Tsunami“ hat eine Dynamik ausgelöst, eine Art Grillo-Fieber. Wie weit wird sich das im Wahlresultat niederschlagen? Die Prognosen gehen von 15 bis 30 Prozent aus. Niemand weiss es wirklich.
Es ist die Zeit der grotesken Spekulationen. Jeder liest im Kaffeesatz, jeder hat etwas gehört. Jeder kennt einen, der einen kennt, der etwas weiss.
Seit zwei Wochen dürfen in Italien keine Meinungsumfragen mehr veröffentlicht werden. Man wollte so verhindern, dass die Wähler beeinflusst werden. In Wirklichkeit erreicht man das Gegenteil: Gerüchte kursieren, falsche Umfragen werden gestreut. Journalisten werden manipuliert.
Berlusconi ist in diesem Geschäft ein Meister. Seit Tagen lässt er „geheime“ Zahlen streuen, die besagen, dass er kurz vor dem Sieg steht. Zweck solcher Manöver ist es, den eigenen Leuten Mut zu machen und sie zum Gang an die Urnen zu bewegen.
Wer die Wahlen gewinnt, weiss niemand
Natürlich führen die grossen Parteien auch jetzt eigene Meinungsumfragen durch, die sie unter Verschluss halten müssen. Doch diese weichen erheblich voneinander ab. Ernsthafte politische Beobachter sind sich deshalb einig: Wer die Wahlen gewinnt, weiss heute niemand. Prognosen zu stellen, wäre leichtfertig und unseriös.
Aber natürlich darf man sich Fragen stellen. Berlusconi hat neun Millionen Italienern Briefe geschickt, auch einige Tote freuten sich über seine Post. In dem Schreiben kündigt er an, er werde die Immobiliensteuer, die alle im letzten Jahr zahlen mussten, zurückerstatten. Beobachter sind sich einig, dass dieser Brief ein phantastischer Rattenfänger-Coup ist. Schon gibt es überall Leute, die mit dem Brief zur Post gehen und glauben, sie würden die bezahlte Steuer zurückerhalten.
Viele Italiener sind heute verzweifelt und finanziell ausgeblutet. Da sagen sich manche: „Berlusconi ist zwar ein Scharlatan, aber immerhin besteht mit ihm die leise Möglichkeit, dass wir Geld bekommen. Mit den andern bekommen wir sicher nichts zurück.“
Berlusconi hat nie ein Versprechen gehalten
Wie viele Stimmen wird ihm diese „geniale Propaganda“, dieser „horrende Betrug“ einbringen, wie es Giuliano Ferrara nennt, der Herausgeber des sehr rechtsstehenden Blattes „Il Foglio“?
„Berlusconi hat noch nie ein Versprechen gehalten“, sagte Mario Monti, der scheidende Ministerpräsident. Tatsächlich hat Berlusconi immer wieder Steuersenkungen versprochen. Er regierte 3342 Tage, so lange wie kein Ministerpräsident seit dem Zweiten Weltkrieg. Und er regierte mit einer komfortablen Mehrheit. Er hätte Zeit gehabt, solche Steuerreduktionen durchzusetzen. Er tat es nicht.
Laut den letzten offiziellen, vor zwei Wochen veröffentlichten Umfragen liegt das Berlusconi-Lager (inklusive der fremdenfeindlich und sezessionistisch angehauchten Lega Nord) rund fünf Prozent hinter der Linken. Wie viele es heute sind, weiss niemand wirklich.
Berlusconi musste am Freitag seine Schlussveranstaltung in Neapel absagen, offiziell wegen einer Bindehautentzündung. Andere Quellen sagen, er sei erschöpft. Verliert der 76-Jährige wegen dieses Schwächezeichens Stimmen? Niemand weiss es.
Monti, politisch angeschlagen
Die Linke kam vor zwei Wochen auf rund 36 Prozent der Stimmen und lag damit klar in Führung. Doch – und das steht fest – allein wird sie nicht regieren können. Zwar wird sie in der (grossen) Abgeordnetenkammer wahrscheinlich die absolute Mehrheit von mindestens 340 Sitzen erreichen. Doch in der gleichberechtigten kleinen Kammer, im Senat, wird sie die Mehrheit wohl verfehlen.
Sie ist also auf einen Koalitionspartner angewiesen. Viele in Italien, aber auch im Ausland, sahen schon eine Allianz zwischen der Linken und Mario Monti und seiner neuen Bürgerbewegung. Doch Monti, in den viele nach dem Sturz Berlusconis vor 15 Monaten so viele Hoffnung gesetzt hatten, ist politisch angeschlagen.
Und vor allem: Monti scheint nicht dem Berlusconi-Lager Stimmen wegzunehmen, sondern der Linken. Unter dem Strich also ein Nullsummen-Spiel. Monti selbst wirkt in diesen Tagen verzweifelt und wird nicht müde, den Koalitionspartner in spe zu vergraulen. Monti, der stets einen sauberen Wahlkampf versprochen hatte, bezeichnete den linken „Partito Democratico“ unter dem sozialdemokratischen Parteichef Pierluigi Bersani plötzlich als „kommunistisch“. Solche Ausrücke stammen aus dem Vokabular von Berlusconi. Monti hat offenbar schon aufgegeben. Wenn er mehr Zeit gehabt hätte, seine Bürgerbewegung aufzubauen, sagte er am Donnerstag im Fernsehen, „hätten wir gewonnen“.
Italien wird nicht zur Ruhe kommen
Was auch immer geschieht, wer auch immer gewinnt, eines ist sicher: Italien wird auch nach diesen Wahlen politisch nicht zur Ruhe kommen.
Was geschieht, wenn die Linke zusammen mit Montis Bürgerbewegung keine Mehrheit im Senat erringen kann? Dann könnte es schon bald Neuwahlen geben.
Und wenn die Linke zusammen mit Monti eine Regierung bilden kann? Dann könnte diese Allianz schon bald auseinanderbrechen, denn viele Linke lehnen den rechten Monti ab.
Gewinnt aber Berlusconi, ist der Teufel los. Eine Regierung Berlusconi droht, dem Land wirtschaftlich schweren Schaden zuzufügen.
Und die Grillini als Regierungspartner? Vielleicht würden dann die italienischen Journalisten aus dem Parlament verbannt.
Wie es auch kommt, es kommt nicht gut.
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