Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk fordert Europa auf, sich auf einen Krieg vorzubereiten. Doch Europa sei nicht bereit. Die europäischen Staaten müssten ihre Verteidigung stark ausbauen.
In einem am Karfreitag veröffentlichten Interview mit der Römer Zeitung «La Repubblica» sagt Tusk: «Ich möchte niemanden erschrecken, aber Krieg ist kein Konzept der Vergangenheit mehr. Er ist real, er hat sogar schon vor mehr als zwei Jahren begonnen.» Das Beunruhigendste sei, dass «jedes Szenario möglich ist, buchstäblich jedes». Es sei das erste Mal seit 1945, dass wir uns in einer solchen Situation befänden.
«Ich weiss, es klingt niederschmetternd, vor allem für die jüngere Generation, aber wir müssen uns mental auf die Ankunft einer neuen Ära einstellen. Es ist die Vorkriegszeit. Ich übertreibe nicht. Das wird jeden Tag deutlicher.»
«Natürlich, er ist russophob»
Europa müsse bereit sein, habe aber «noch einen langen Weg vor sich». Glücklicherweise gebe es eine echte Revolution in der europäischen Mentalität. «Als ich zum ersten Mal Premierminister war (2007–2011) hat ausser den baltischen Staaten niemand auf meine Warnungen gehört, dass Russland eine Bedrohung darstellen könnte. Eine Möglichkeit, die immer verworfen wurde.»
«Als ich sagte, Russland sei ein Problem für Europa, kein Partner, zuckte man mit den Schultern: Natürlich, er ist Pole, er ist russophob, hiess es.»
Umschwung?
Jetzt allerdings, erklärt Tusk, beobachte er mit Genugtuung «die Veränderungen, die sich in allen europäischen Hauptstädten vollziehen». Die wichtigste sei, dass niemand mehr die Notwendigkeit einer gemeinsamen Verteidigung in Frage stelle. «Schauen Sie sich Deutschland an: Dort hat es einen gewaltigen Umschwung gegeben. Heute wetteifern die grossen Parteien, die CDU und die SPD, darum, wer ein überzeugterer Befürworter der Ukraine ist.» Beruhigend sei auch die Haltung und Entschlossenheit des französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Und da sei auch noch die Metamorphose in Skandinavien. «Als ich jung war, galten Schweden und Finnland als klar pazifistische und neutrale Staaten. Heute sind sie Nato-Mitgliedstaaten. Und manchmal nehmen meine Kollegen in Stockholm oder Helsinki in Sicherheitsfragen eine härtere Haltung ein als die alten Paktmitglieder. Und sie lassen sich nicht auf Rhetorik ein: Sie handeln.»
«Unser Hauptziel muss es sein, die Ukraine vor einer russischen Invasion zu schützen und ihre Unabhängigkeit und Integrität zu wahren. Das Schicksal der Ukraine liegt in erster Linie in unseren Händen. Ich spreche nicht von Polen oder der EU allein, sondern vom gesamten Westen.»
Tusk erklärte, Polen und die Ukraine hätten in der Vergangenheit eine sehr schwierige Beziehung gehabt. «Was jetzt zwischen unseren Völkern passiert – diese unbestrittene Solidarität – ist ein Wunder. Ich möchte dieses Gefühl bewahren, auch wenn es nicht einfach ist.»
«Kritischster Moment seit dem Zweiten Weltkrieg»
Die Botschaft laute, sagt Tusk: «Unabhängig davon, wer die US-Wahlen gewinnt, ob Joe Biden oder Donald Trump, ist es Europa, das mehr für die Verteidigung tun muss. Nicht um militärische Autonomie gegenüber den Vereinigten Staaten zu erlangen oder Parallelstrukturen zur Nato zu schaffen, sondern um unser Potenzial, unsere Fähigkeiten und unsere Stärke besser zu nutzen. Wir werden ein attraktiverer Partner für die Vereinigten Staaten sein, wenn wir im Bereich der Verteidigung unabhängiger sind.»
«Es gibt keinen Grund, warum die Europäer nicht ein Grundprinzip einhalten und mindestens 2% des BIP für die Verteidigung ausgeben sollten. Das ist die Ausgangsbasis. Ich kann verstehen, dass nicht alle Länder das polnische Modell übernehmen wollen. Wir geben 4% aus, aber es stimmt auch, dass unsere Sicherheitslage komplexer ist als die von Spanien oder Italien. Dennoch müssen 2% des BIP als ein Muss angesehen werden. Ich verstehe nicht, wer das in Frage stellen will. Wir können über Eurobonds für die Verteidigung und eine stärkere Beteiligung der Europäischen Investitionsbank (EIB) diskutieren. Aber wir müssen so viel wie möglich ausgeben, um Ausrüstung und Munition für die Ukraine zu kaufen, denn wir erleben den kritischsten Moment seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
«... dann wird sich niemand mehr in Europa sicher fühlen»
Die nächsten zwei Jahre werden entscheidend sein. Wenn wir die Ukraine nicht mit ausreichend Ausrüstung und Munition unterstützen, wenn die Ukraine verliert, wird sich niemand in Europa mehr sicher fühlen können. Wir müssen auch unser Selbstverständnis ändern. Wir leben im reichsten Teil der Welt, wir sind an der Spitze, wenn es um Technologie oder Lebensstandard geht. Man kann Russland nicht ernsthaft mit der EU vergleichen. Wir müssen anfangen, diesen Vorteil zu nutzen. Und wir müssen über neue Investitionen sprechen, um alles zu kaufen, was auf dem Markt verfügbar ist, um es in die Ukraine zu schicken, die es braucht.»
Der jetzt 66-jährige Donald Tusk war von 2007 bis 2014 polnischer Ministerpräsident. Von 2014 bis 2019 war er Präsident des Europäischen Rates. Am 13. Dezember 2023 übernahm er – nach der Niederlage der acht Jahre regierenden rechtspopulistischen PiS-Partei – erneut das Amt des polnischen Ministerpräsidenten.
Intervier in La Rapubblica/Übersetzung J21