Kann unser kolonial geprägter Rassismus überwunden werden? Tim Guldimann diskutiert mit dem Schriftsteller Martin R. Dean und der Rassismus- und Genderforscherin Rachel Huber.
Martin Dean hat die eigene kolonial-rassistisch geprägte Familiengeschichte in seinem Roman «Tabak und Schokolade» erzählt. Der Rassismus habe in seiner Kindheit eine ganz andere Ausprägung gehabt als heute. «Ich war der einzige Junge nicht-weisser Hautfarbe und da gab es immer andere, die riefen ‘Negerli, Negerli‘. Das wäre heute nicht mehr möglich.» Das globale Ereignis «Black Lives Matter» habe ihn ermutigt. «Wir sind wehrhafter geworden gegenüber Alltagsverletzungen.»
Rachel Huber ist nicht so zuversichtlich, wenn auch direkter individueller Rassismus seltener geworden sei. «Aber für mich ist das die Spitze des Eisbergs. Und alles, was darunter kommt, sind Fragen von strukturellem, institutionellem, indirektem und implizitem Rassismus, und das haben wir als Gesellschaft noch gar nicht auf dem Radar.»
Martin Dean glaubt, dass wir erst beginnen, uns überhaupt bewusst zu werden, was Kolonialismus bedeutet. Die abwertenden Bilder des Fremden stammten aus dem Kolonialismus: Der faule Schwarze, der minderwertige Inder, der unzurechnungsfähige Indianer, das seien alles Kolonialismusbilder, die bis heute wirksam sind. «Ohne Kolonialismus ist eine Beschreibung der Globalisierung nicht möglich. Kolonialismus ist ein System, das Wissen organisiert.»
Rachel Huber erklärt dies so: «Das koloniale Unternehmen musste legitimiert werden. Das waren ja alles Christen. Als Christen durfte man ja diese Menschen nicht einfach unterwerfen oder einfach töten. Also hat man halt eine Hierarchie entwickelt, die ‘Rassenhierarchie‘.» Durch die Abwertung der schwarzen Hautfarbe habe man sich ein gutes Gewissen verschafft bei der Versklavung und Tötung von Unterworfenen. Dies habe die Menschheit so geprägt, dass noch heute die weisse Hautfarbe für Überlegenheit stehe.
Dean befürchtet, dieser Mechanismus funktioniere weiterhin: In verunsichernden Situationen würden die Menschen anfangen, die Anderen, die Fremden zu Sündenböcken zu machen. «Meine Angst ist auch, dass Rassismus als Ausschlusssystem wieder funktionieren könnte. Wenn ich die rechten Politiker höre, Trump, Orban auch Vucic, dann favorisieren die nicht von ungefähr eine ethnisch reine Bevölkerung. Deshalb auch der Fokus auf die Migration.»
Auf die Frage, ob eine zu starke Moralisierung des Rassismus Abwehr provoziere, antwortet Rachel Huber: «Es ist viel zu emotionalisiert, viel zu politisiert. Wir müssen nicht moralisieren, wir müssen uns an Gesetze halten in einem Rechtsstaat und an Menschenrechte, die wir ratifiziert haben.»
Journal21 publiziert diesen Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Projekt «Debatte zu dritt» von Tim Guldimann.