Wenn sich die Dinge langsam und unmerklich verändern, ist man sich der Drastik der Entwicklung kaum bewusst. Man gebraucht hierzu oft das warnende Bild des Frosches im Kochtopf.
Er springt aus dem siedenden Wasser, aber lässt sich zu Tode kochen, wenn man die Wassertemperatur stetig leicht erhöht. Die Analogie ist ein Slippery-Slope-Argument. Sie warnt uns vor Trägheit oder Widerwillen gegenüber nötigen Massnahmen und Verhaltensänderungen.
Wir seien zum Beispiel angesichts der graduellen Umweltverschlechterungen wie Frösche im Topf, hört man, wir würden erst herausspringen, wenn es zu spät ist – sofern wir das dann noch können. Oder wir seien zu wenig wachsam gegenüber antidemokratischen Bewegungen in gegenwärtigen liberalen Gesellschaften, und wir würden dies erst merken, wenn die Diktatur sich etabliert hat.
Was sagt die Biologie dazu?
Frösche sind Amphibien. Sie sind Kaltblütler, das heisst, sie produzieren nicht selbst ihre Körpertemperatur wie wir Säuger. Sie zapfen externe Energiequellen an, am häufigsten Sonnenlicht. Vom Gesichtspunkt der Effizienz aus betrachtet ist das sehr klug. Wir Warmblütler müssen viel essen, um die nötige Körpertemperatur zu erhalten. Kaltblütler brauchen viel weniger Nahrung als Energiezufuhr.
Natürlich merken Frösche, wenn ihre Umgebung zu kalt oder zu heiss ist. Sie regulieren ihren internen Temperaturhaushalt, indem sie Sonnenlicht suchen, wenn ihnen kalt ist. Wenn ihnen zu warm ist, verdunsten sie Wasser, um dem Körper Wärme zu entziehen, auf die Art und Weise, wie wir Menschen schwitzen. Jede Spezies hat ihr eigenes kritisches Temperaturmaximum. Bei Menschen beträgt es etwa 42 Grad; bei Fröschen zwischen 25 bis 30 Grad. Ein Frosch kann während einer bestimmten Zeit in einer Umgebung mit Temperatur über dem Maximum aushalten, bis er aus der Umgebung flüchtet. Im Übrigen sitzen Frösche nicht einfach so herum, sie sind bewegungsfreudig, was ja auch in der Redensart «Sei kein Frosch!» zum Ausdruck kommt: Lauf nicht davon, wenn die Situation brenzlig ist.
Lobotomisierte Frösche
Seit Galvanis Experimenten mit Froschschenkeln ist der Frosch ein probates Versuchstier – ein «Präparat» – in der biomedizinischen Forschung. Hunderttausende dieser Tiere verendeten verstümmelt und verstückelt auf Labortischen. Und mussten auch in den Kochtopf springen. Im späten 19. Jahrhundert stand vor allem das Nervensystem des Froschs im Fokus des Interesses. Der deutsche Mediziner Friedrich Leopold Goltz – entschiedener Befürworter der Vivisektion – führte sogenannte «Ausschaltungsversuche» am Zentralnervensystem des Frosches durch, um Aufschlüsse über die Reflexvorgänge zu erhalten. Er verglich dabei Frösche, die er lobotomisiert – Teile ihres Gehirns entfernt – hatte, mit normalen Fröschen. Goltz erhöhte die Wassertemperatur auf 56 Grad innerhalb von zehn Minuten. Und er stellte fest, dass die hirnlosen Tiere im heissen Wasser blieben, während die behirnten heraussprangen.
Natürlich betrachten wir aus heutiger Sicht solche Experimente mit eigentlich trivialem Ausgang als grausam. Aber wir müssen bedenken, dass die Kenntnis über Vorgänge im Nervensystem – verglichen mit heute - noch dürftig war. Im Übrigen bezweifeln moderne Biologen die Aussagekraft des Experiments.
Das Haufen-Paradox
Trotzdem ist die Metapher nützlich. Einmal als die Frage, wie wir auf fein abgestufte, kaum bemerkte Weise in gefährliche Situationen hineinrutschen können. Wann ist es zu spät? Das ist ein uraltes philosophisches Problem, bekannt als das «Haufen-Paradox» (Sorites-Paradox). Es hat zu tun mit den sukzessiven kleinen Veränderungen eines Zustands bis zu jenem Punkt, wo der Zustand sich in einen neuen verwandelt. Wir beginnen mit einem Sandkorn und fügen ein weiteres hinzu. Haben wir nun einen Sandhaufen vor uns? Nein. Dann fügen wir ein weiteres Korn hinzu. Immer noch kein Haufen. Wenn wir die Prozedur weiterführen, sagen wir bis zu einer Million Körnern, können wir immer noch argumentieren: Bisher war das kein Haufen, also auch jetzt nicht. Paradox, wir kommen nach dieser Logik nie zu einem Sandhaufen. Würde der Frosch so argumentieren, dann wie folgt: Bisher war das Wasser nicht zu heiss, also kann es auch nach dieser Temperaturerhöhung nicht zu heiss sein.
Nun ja, das ist eher etwas für philosophisch geneigte Naturelle. Für gewöhnlichere ist die Metapher ein Hinweis darauf, wie wir Menschen quasi als «selbst-lobotomisierte» Frösche auf bestimmte, offensichtliche Gefahren nicht reagieren. Und das allein ist schon bedenklich. Kochtöpfe gibt es nämlich überall.