Der saudische Journalist Jamal Kashoggi hat am Dienstag, 2. Oktober 2018, vormittags, das saudische Konsulat in Istanbul besucht und ist seither nicht mehr gesehen worden. Jamal Kashoggi war dem früheren König Saudi-Arabiens nahe gestanden und war zweimal Chefredaktor von saudischen Zeitungen. Er hatte auch als auch Presseberater des früheren saudischen Botschafters in Washington gedient.
Er galt als einer der wenigen Journalisten des Königreiches, die stets klar ihre Meinung sagten und schrieben. Dabei blieb er auch, als das neue Regime König Salmans und seines Kronprinzen, Muhammad bin Salman, die Macht übernahm. Er schrieb kritisch über den Jemen-Krieg, hinterfragte den Bruch mit Katar und die Verfolgung der Muslimbrüder, sprach sich für Reformen aus – die seiner Meinung nach allerdings von der Bevölkerung ausgehen sollten, eher als von oben diktiert.
Er erhielt Schreib- und Twitter-Verbot. Einige seiner Freunde verschwanden in den Gefängnissen. Er entschloss sich, das Königreich zu verlassen, lebte meist in den USA, wo er seine Ausbildung als Journalist erworben hatte, und äusserte sich kritisch über das Regime des Kronprinzen und dessen offensichtliche Schwächen. Dies unter anderem als regelmässiger Mitarbeiter bei der „Washington Post“.
Selbstdarstellung eines saudischen Nationalisten
In einem Artikel mit autobiographischer Färbung schilderte Kashoggi, der als ein saudischer Nationalist, keineswegs als ein systematischer Oppositioneller gelten wollte, die Beweggründe, die ihn ins Exil und in die Opposition geführt hatten. Er schrieb am 18. September 2017 in der Washington Post:
„... Wir machen zurzeit einen grossen wirtschaftlichen Umbruch durch, der von der Bevölkerung befürwortet wird. Dies ist ein Umbruch, der uns befreien wird von der lückenlosen Abhängigkeit vom Erdöl und der eine Kultur der Arbeit und der Produktivität wiederherstellen soll. Dies ist ein schmerzlicher Prozess. Mohammed bin Salman (dem allmächtigen Kronprinzen) ist am besten gedient, wenn er konstruktive, vielseitige Meinungen von öffentlichen Persönlichkeiten ermutigt – von Personen wie Essam Al-Zamil (ein bekannter Wirtschaftsfachmann, der soeben verhaftet worden war) und anderer Wirtschaftsfachleute, Geistlicher, Intellektueller und Geschäftsleute, solche wie die, die nun festgenommen worden sind.“
„Meine Freunde und ich im Ausland fühlen uns machtlos. Wir wünschten, dass unser Land blühe, und möchten ‚Vision 2030‘ realisiert sehen. (Dies ist der Plan des Kronprinzen, der das Land umwandeln soll.) Wir sind nicht gegen unsere Regierung. Wir lieben Saudi-Arabien zutiefst. Es ist die einzige Heimat, die wir haben und begehren. Es ist das Zuhause, das wir kennen und lieben. Dennoch gelten wir als der Feind. Unter dem Druck meiner Regierung hat der Herausgeber einer der meistgelesenen arabischen Zeitungen, ‚al-Hayat‘, meine regelmässigen Meinungsbeiträge untersagt. Die Regierung verbot mir ‚Twitter‘, weil ich sie vor allzu enthusiastischer Umarmung des damals neugewählten Präsidenten Trump warnte.“
„Darauf verblieb ich sechs Monate in Schweigen und dachte nach über die Lage meines Landes und über die harte Wahl, vor der ich stand. Einige Jahre zuvor war es schmerzlich für mich, als einige meiner Freunde verhaftet wurden. Doch ich schwieg damals. Ich wollte meine Arbeit nicht verlieren. Ich war besorgt um meine Familie.“
„Jetzt aber traf ich eine andere Wahl. Ich habe meine Heimat, meine Familie, meine Arbeit verlassen, und ich will meine Stimme erheben. Dies nicht zu tun, wäre Verrat an jenen, die im Gefängnis sitzen. Ich kann sprechen, wenn so viele dies nicht können. Wir Saudis verdienen ein besseres Los.“
Der Besuch im saudischen Konsulat von Istanbul
Das Folgende ist über den Vorfall bekannt: Der Journalist besuchte das saudische Konsulat, weil er Papiere benötigte, die bestätigten, dass er sich von seiner früheren Frau, die in Saudi-Arabien zurückblieb, getrennt hatte. Ob die Scheidung von ihm oder von ihr ausgegangen war, ist nicht klar. Kashoggi hatte das Konsulat schon früher in dieser Angelegenheit besucht. Damals war ihm bedeutet worden, er solle in einer Woche zurückkehren.
Seine Verlobte türkischer Nationalität, die er heiraten wollte, begleitete ihn bis vor die Tür des Konsulats und wartete dort auf seine Rückkehr. Sie ist nur mit ihrem Vornamen, Hatice, bekannt. Nach ihren Aussagen war der Journalist beunruhigt über die Notwendigkeit des Besuches. Er übergab ihr sein Mobiltelefon und nannte den Namen eines Beraters Präsident Erdogans, der benachrichtigt werden sollte, falls er nicht zurückkehre.
Die Verlobte wartete vergebens auf seine Rückkehr. Sie benachrichtigte nach einer langen Wartezeit den Berater, Yasin Aktay, und die Polizei. Aktay ist ein früherer Abgeordneter der Mehrheitspartei AKP und dient zurzeit als Berater Erdogans. Das Konsulat ist aus Sicherheitsgründen von Beobachtungskameras umgeben, die der Polizei erlauben, festzustellen, wer hinausgeht, wer hereinkommt. Dort war Kashoggis Eintritt sichtbar. Aber es gab keine Aufnahme von seinem Verlassen des Konsulats. Die Kameras registrierten auch einen Verkehr von als diplomatisch gekennzeichneten Automobilen.
Anonyme angebliche Assagen der türkischen Polizei
Gegenüber der Washington Post und der Agentur Reuter sowie der Website „Middleast Eye“ haben anonym gebliebene aber angeblich hochrangige Beamte der türkischen Polizei und Verwaltung erklärt: „Die vorläufige Beurteilung der türkischen Polizei ist, dass Herr Kashoggi im Konsulat von Saudi-Arabien getötet wurde. Wir glauben, der Mord war vorsätzlich und die Leiche sei später aus dem Konsulat entfernt worden“.
In den Medien war auch die Rede von anynom gebliebenen Polizeiaussagen. Danach wurde Kashoggi im Konsulat „grausam gefoltert“, seine Leiche zerstückelt. Ein Video der Vorgänge sei aufgenommen und nach Saudi-Arabien übermittelt worden. Die Polizei habe auch festgestellt, dass 15 Personen in einem Privatflugzeug aus Saudi-Arabien am gleichen Dienstag in Istanbul gelandet seien. Sie hätten das Konsulat besucht und am gleichen Tag Istanbul wieder verlassen. Woher die Polizei ihre angeblichen Informationen habe, wurde nicht erwähnt. Eine offizielle gerichtliche Untersuchung der Vorfälle wurde angeordnet, und die türkischen Sprecher versichern, die Tatsachen würden alle ans Licht kommen.
Der Kronprinz duldet keine Kritik
Dass der Journalist sich noch lebend im Konsulat oder ausserhalb desselben befinde, wird mit jedem Tag, der vergeht, ohne dass er auftaucht, unwahrscheinlicher. Und die Wahrscheinlichkeit, dass er ermordet oder mit Gewalt entführt wurde, nimmt dementsprechend zu.
Es gibt eine lange Liste von Entführungen saudischer Dissidenten und Oppositioneller aus dem Ausland. Eine, möglicherweise zwei, von ihnen fanden offenbar in Genf statt. Die saudischen Behörden streiten stets alles ab. Es ist inzwischen sehr deutlich geworden, dass der allmächtige Kronprinz keinerlei öffentliche Kritik oder andere Meinungen als die seine, weder im Inland noch im Ausland, duldet.
Die Beziehungen zwischen dem Königreich und der Türkei waren schon vor diesen Vorfällen angespannt. Ankara hat im immer noch andauernden Streit zwischen Saudi-Arabien und Katar die Partei Katars ergriffen. Mit Iran, dem Erzfeind der Saudis, sucht Ankara gute Beziehungen aufrechtzuerhalten. Dem amerikanischen Iran-Boykott will es sich nicht anschliessen, sondern gedenkt seine Erdöl- und Erdgas-Käufe in Iran fortzusetzen.