Um das Mass voll zu machen, laufen parallel dazu zwei weitere Verfahren (in einem Bauprojekt in Mumbai und Schmiergeldzahlungen bei den kürzlichen Commonwealth-Spielen), die die Armeespitze und die Sportverbände betreffen.
Der Hauptskandal wird inzwischen nur noch als "2G" gehandelt, da er seinen Ausgang bei der Vergabe – das ist wohl das richtige Wort – von Sendefrequenzen für Mobiltelefon-Anbieter im Jahr 2008 nahm.
Statt die Frequenzen zu versteigern, um einen echten Marktpreis zu finden, wurden diese verhökert, zum Tarif, der 2001 gueltig war. Dank selektiven Offert-Einladungen kamen nur ein paar Bewerber zum Zug, unter ihnen Briefkastenfirmen und Bauunternehmen. Einige Monate später versilberten diese ihre Lizenzen zum Zehnfachen des Einstandpreises.
Begonnen hatte der Skandal im Frühjahr 2008, als es darum ging, den Politiker A.Raja als Telekom-Minister in den Sattel zu heben. Der tamilische Koalitionspartner DMK hatte diese lukrative Pfründe von der Kongresspartei gefordert und erhalten. Doch dies ging nicht glatt über die Bühne: wegen Komplikationen in den Eheverhältnissen des DMK-Präsidenten M. Karunanidhi. Dieser hat nämlich drei Ehefrauen. Von jeder hat er Kinder, die nun um das politische Erbe des 85Jährigen kämpfen. Ein Verwandter der zweiten Frau war bereits einmal Telekom-Minister gewesen. Die Faktion um die dritte Gattin versuchte dies zu verhindern und platzierte einen Dalit-Führer, A.Raja, als Kandidaten.
5800 Telefongespräche abgehört und jetzt veröffentlicht
Hier taucht plötzlich der Name Neera Radia auf, eine Inderin mit britischem Pass, eine Lobbyistin für die Crème der indischen Industrie und daher mit einem dichten Beziehungsnetz in alle politischen Parteien, in die Medien und die Bürokratie hinein.
Aus noch nicht geklärten Gründen wurden ihre Telefonanrufe von der Steuerbehörde zwei Jahre lang abgehört. Vor einigen Wochen gelangten eine Reihe der rund 5800 Gespräche in zwei Wochenblätter und in die Hand eines Anwalts, der sie direkt dem Obersten Gericht vorlegte.
Sie öffneten den Blick auf eine erschreckende Szenerie. Radia hatte versucht, für ihre Klienten (darunter befinden sich namhafte Telekom-Konzerne) Raja auf den Ministerstuhl zu hieven. Dazu hatte sie alle ihre Kontakte aktiviert, von bekannten Journalisten über Politiker und Beamte bis zu ehemaligen Richtern.
Doch dies war nur ein Teil ihrer Arbeit – sie kämpfte auch für Bergbau-Lizenzen, Luftfahrt-Konzessionen und die Festlegung von Gaspreisen. Deutlich wurde auch, wie sie versuchte, widerspenstige Gegenspieler oder integre Beamte zu entmachten. Auch polizeiliche Nachforschungen über fragwürdige Geschäftsgebaren versuchte sie zu blockieren.
Es ist ein indisches Wikileaks, das sich über die indische Öffentlichkeit ergiesst, und wie es bei Lecks eben ist, erhalten Enthüllungen eine eigene Dynamik. Im Unterschied zum globalen Wikleaks sind diese aber nicht einem Ritter mit blütenweisser Rüstung zu verdanken, sondern Geschäftsrivalen, die dafür sorgten, dass eine (vermutlich bestochene) Behörde einen Lauschangriff startete und die Telefon-Protokolle tropfenweise in die Öffentlichkeit sickern liess.
"Alle sind Diebe"
Beinahe jede Person im Dunstkreis der politischen Macht der Hauptstadt gehörte zu gleichen Teilen zu Radias Freundes - oder zu deren Feinden. Sie müssen sich nun darauf einstellen, jeden Tag in den Zeitungen lesen zu müssen, was sie Abfälliges über diesen oder jenen "Freund" verlauten liessen. Den meisten Zuschauern dieser Schmierenkomödie namens "Indische Demokratie" bestätigt sich damit lediglich ihre zynische Einschätzung der indischen Politik und Wirtschaft. Im Volksmund heisst das: ‚Sab Chor hai‘ – Alle sind sie Diebe.
Doch auch nachdenkliche Beobachter machen sich Sorgen. Sie sehen in der korrodierenden Wirkung der Korruption nicht nur die übliche Begleiterscheinung einer dynamisch wachsenden Wirtschaft. Sie sind auch der Grund fuer die tiefe (und immer tiefer werdende) Kluft zwischen Arm und Reich. Es sei kein Zufall, sagt der Politologe Bhanu Pratap Mehta, dass die Mehrheit der 69 indischen Dollar-Milliardäre aus den Sektoren Bergbau, Hoch- und Tiefbau, Immobilienhandel, und Telekom stammen, in denen die Basisressourcen (Boden, Grundeigentum, Funkfrequenzen) vom Staat kontrolliert werden.
Und warum trotzt die Armut dem hohen Wirtschaftswachstum des Landes? Weil genau diese Sektoren das Gesamtwachstum so positiv beeinflussen (und den Gesamteindruck verfälschen). Währenddessen stagniert die Landwirtschaft, in der zwei von drei Indern ihren Lebensunterhalt finden.
Vor aller Augen die Macht misssbraucht
Nicht nur können in einem Markt von einer Milliarde Menschen ein paar Wenige rasch viel Geld verdienen, wenn sich das System so leicht biegen laesst. Mit denselben Methoden lässt sich wirtschaftliche Entwicklung auch verhindern. Die Tata-Gruppe, die beim Telekomgeschäft dank Neera Radia offenbar gut gefahren ist, wartet seit Jahren auf die Erneuerung von Bergbaulizenzen.
Ihr Plan für ein Joint Venture mit Singapore Airlines wurde von Geschäftsrivalen hintertrieben. Der Firmenchef Ratan Tata war nach eigener Aussage nicht bereit, diese mit einer höheren Schmiergeldsumme auszuhebeln. „Ich will am Abend mit ruhigem Gewissen ins Bett“, erwiderte er einem Geschäftsfreund, als dieser ihm bedeutete, er solle doch diese lumpigen 150 Millionen Rupien zahlen, dann habe er seine Luftlinie.
Lässt sich das Gesetz vom halbvollen und halbleeren Glas auch auf die gegenwärtige Korruptionswüste in Indien anwenden? Zweifellos muss man anerkennen, dass das gewaltige Echo, das die jüngsten Enthüllungen ausgelöst haben, die Chance bietet für eine umfassende Reform des Systems. Allen voran Massnahmen für die Unabhängigkeit der Bundespolizei und der Anti-Korruptionsbehörde.
Doch damit würden die Politiker, so meinen Skeptiker, nur am Ast sägen, auf dem sie sitzen. War es etwa das demokratische System, das die jüngste Enthüllungswelle ausgelöst hat? Mitnichten, antworten sie, es waren vermutlich Rivalen, und sie handelten aus Futterneid und nicht aus Sorge um eine saubere Regierungsführung.
Der Mann, der für mich die Macht des Geldes und die Machtlosigkeit, dagegen anzugehen, am klarsten verkörpert, heisst Manmohan Singh. Dieser durch und durch integre Mann, der als Premierminister das mächtigste Amt des Landes besetzt, konnte seinen eigenen Telekom-Minister nicht in die Schranken weisen und schon gar nicht entlassen. Dies, obwohl dieser Telekom-Minister vor aller Augen seine Macht missbrauchte. Er rechtfertigte sich mit Koalitionszwang, der Realitätspolitik des demokratischen Systems, der Sorge um die parlamentarische Mehrheit.
Mahatma Gandhi hätte dabei seinen Finger auf den wunden Punkt gelegt und hätte es Machtgier genannt. Diese korrumpiert selbst einen sauberen Politiker, der lieber Unrecht toleriert als sich auf die Oppositionsbänke zu setzen und bereit ist, dafür buchstäblich jeden Preis zu zahlen.