Eine Fahrt mit der am 8. Dezember 2022 eröffneten Limmattalbahn von Killwangen-Spreitenbach nach Altstetten gibt Anlass zu einer Spurensuche nach der eigenen Kindheit.
Dem ehemaligen Bauerndorf Killwangen im Limmattal, nahe an der Grenze des Kantons Aargau zum Kanton Zürich gelegen, gestanden die Erbauer der Spanisch-Brötlibahn erst am 1. Februar 1848, ein halbes Jahr nach Eröffnung der Bahnlinie zwischen Zürich und Baden, eine eigene Bahnstation zu. Im Jahre 1912 erhielt dann auch das südliche Nachbardorf Spreitenbach durch Umbenennung der Station zu Killwangen-Spreitenbach einen Platz auf der Schweizer Eisenbahnkarte. Aber das änderte nichts am provinziellen Charakter der kleinen Landstation.
Unzählige Male bin ich in meiner Jugend auf der Reise zwischen Basel und Zürich hier vorbeigefahren. Dass man hier ein- oder aussteigen könnte, wäre mir nie in den Sinn gekommen, oder höchstens zu einem Besuch des kleinen Flugplatzes von Spreitenbach, an dem der Zug vorbeifuhr und Sehnsucht nach dem Fliegen weckte.
Doch in den 1970er Jahren zog in Killwangen-Spreitenbach mit voller Wucht die Moderne ein. Als 1970 in Spreitenbach das Shoppi, eines der ersten Einkaufszentren der Schweiz, und vier Jahre später das Tivoli eröffnet wurden, änderte sich das Image der kleinen Aargauer Gemeinde drastisch: Nicht mehr das Motel, das an der Staatsstrasse 3 gleich hinter der Kantonsgrenze stand und den unverheirateten Paaren aus dem konkubinatsverbietenden Zwinglikanton unbeschwerte Liebesnächte gewährte, wurde fortan mit dem Namen der Gemeinde assoziiert, sondern das unbegrenzte Einkaufserlebnis.
Fast gleichzeitig wurde mit der Eröffnung des Heitersbergtunnels (1975) und kurz danach des Rangierbahnhofes Limmattal – ihm fiel u. a. mein «Jugendflugplatz» zum Opfer – der verträumte Bahnhof Killwangen-Spreitenbach zu einem wichtigen Knotenpunkt im Schweizer Schienennetz. Doch seine lokale Bedeutung blieb weiterhin bescheiden – trotz des neuen Stationsgebäudes.
Seit dem 8. Dezember 2022 ist alles anders: Killwangen-Spreitenbach ist jetzt Endpunkt der neuen Limmattalbahn (LTB), welche auf einer Strecke vom 13,3 km über Spreitenbach, Dietikon und Schlieren zum Bahnhof Zürich Altstetten führt. Neugierig fuhr ich vor ein paar Tagen mit der S12 dorthin.
Vor dem Bahnhofsgebäude wartet ein nigelnagelneuer weisser Gelenktriebwagen. Ich steige ein, schliesse für einen kurzen Moment die Augen und reise mit der Zeitmaschine zurück in die 1950er Jahre, als der Schüler aus Basel – der Stimmbruch war noch weit – zusammen mit einem Zürcher Freund mit einer Tageskarte für weniger als zwei Franken das Zürcher Tramnetz erkundete, Linie für Linie, von Endstation zu Endstation, jede Fahrt eine Premiere.
Eine Premiere wird es auch heute sein. Die Augen des Buben von damals erblicken als erstes einen klinisch-weissen, endlos scheinenden Innenraum, an der Decke eine Informationstafel («Willkommen/Welcome») und die Liniennummer 20, weiss auf rotem Grund. Kommt ihm bekannt vor, man müsste nur die Null hinter der Zwei weglassen, dann wäre es der «rote Zweier». Hatte der im Limmattal nicht auch schon seinen Auftritt gehabt? Doch davon später!
Begegnungen in der Überlandbahn
Langsam füllt sich der Wagen. Erstaunlich viele Passagiere, denkt der als Pensionist getarnte Schüler, die meisten in fortgeschrittenem Alter und ausgerüstet mit leeren Einkaufstaschen. Das Tram setzt sich in Bewegung: «Spreitenbach-West ... Umweltarena ... Shoppi Tivoli», tönt es aus dem Lautsprecher. Hier findet ein fast vollständiger Fahrgastwechsel statt. Die leeren Taschen steigen aus, die vollen ein. Mir gegenüber lässt sich eine füllige Dame nieder, blonde Locken, vielleicht nicht mehr ganz original, eine prall gefüllte Louis-Vuitton-Tasche auf dem Schoss, die bessere Zeiten gekannt haben muss. «Ruhig Rambo», höre ich sie leise, aber im Befehlston sagen. Tatsächlich, aus der Tasche schaut mich ein keckes, hellbraunes Hundeköpfchen an (Rehpinscher?), das hingebungsvoll die Hand seiner Meisterin zu lecken beginnt.
Hinter der L.V.-Dame ist eine massige Gestalt mit wirrem Haar und ausgebeulten Bluejeans eingestiegen, das Handy ans Ohr gepresst, laut mit einer unbekannten Person parlierend – sie wird gute zehn Haltestellen später als K. verabschiedet werden. Aber bevor es so weit ist, werden wir alle, die wir irgendwo im 40 Meter langen Gelenkfahrzeug sitzen oder stehen, Zeuge der neusten Entwicklung im Leben unseres Mitpassagiers: «... schön von dir nach so vielen Jahren zu hören ... ja, ich bin doch der Bruder von ... übrigens seit gestern bin ich geschieden ... ja, ich bin froh, auch wenn ich blechen muss ... ist halt so, derjenige, der mehr verdient, zahlt ... macht auch nichts ... seit sie ständig jammerte und sich krank meldete, war es noch weniger auszuhalten ... ja, ich muss gleich aussteigen. Also, mach’s gut, tschau K.»
Plötzliche Stille! Man wähnt sich für einen Augenblick in einer Kirche. Nur zögerlich kommen andere Gespräche wieder in Gang. Unterdessen haben wir die Grenze vom Aargau in den Kanton Zürich überquert, sind am neuen LTB Depot «Müsli» – ja, so heisst es! – vorbeigefahren, das einsam auf einem Feld zwischen dem Rangierbahnhof und der Staatsstrasse liegt, haben das Zentrum von Dietikon gequert, die frühere Bremgarten-Dietikon Bahn gekreuzt, die heute das AVA-Signet (»Aargau Verkehr») trägt, und einen Abstecher auf das Gemeindegebiet von Urdorf und zum Spital Limmattal gemacht, wo wiederum ein intensiver Fahrgastwechsel stattfindet.
Haltestelle Geissweid, ein paar hundert Meter westlich vom Bahnhof Schlieren. Geissen sind hier freilich keine zu sehen, dafür ein blau-weisser Triebwagen der VBZ-Linie 2, gleicher Farbcode wie der 20er, weisse Zahl auf rotem Grund. Seit der Eröffnung der ersten Etappe der Limmattalbahn im August 2019 fährt der Zweier nach Schlieren. Genauer: wieder nach Schlieren wie schon bis zum 1. Januar 1955, erinnert sich der Schüler aus Basel. Leider hatte er während seines damaligen Tageskarten-Abenteuers die Tramfahrt nach Schlieren knapp verpasst – es wurmt ihn bis heute. Kurz zuvor hatte der Zweier die Strecke an die neue Trolleybuslinie 31 abtreten und sich fortan mit einer Tramschleife beim Farbhof diesseits der Stadtgrenze begnügen müssen.
Der Rest der Fahrt im Zwanziger verläuft wenig spektakulär. Die Überlandbahn wird immer mehr zum ganz gewöhnlichen städtischen Tram. Während man an der ehemaligen Waggonfabrik und dem Postzentrum Mülligen vorbei fährt, glotzen die Passagiere auf ihre Handys. Man bleibt stumm. Niemand spricht mehr mit einem Hund oder erzählt am Handy von den Schicksalswendungen des Lebens. Während der VBZ-Zweier beim Farbhof auf seiner angestammten Strecke weiter zum Bahnhof Tiefenbrunnen fährt, kurvt der Triebwagen der LTBer nach links in die Hohlstrasse und beendet seine Fahrt nach rund 40 Minuten vor dem Bahnhof Altstetten, wo der Schüler von damals wieder zum Pensionär von heute wird und mit der S-Bahn nach Hause fährt.
Die gelbe Limmattalstrassenbahn (LSB) alias Lisebethli
Doch halt! Ganz zu Ende ist die Geschichte noch nicht! Irgendwo auf einem Bücherregal in meinem Arbeitszimmer, neben dem Werk über den Bau des (ersten) Gotthardbahntunnels von Felix Moeschlin («Wir durchbohren den Gotthard»), steht ein schon schon fast vergessenes Buch mit dem Titel «Die Limmattal-Strassenbahn» (1). Auf dem Buchdeckel prangt ein Gemälde eines gewissen Loisl, das einen gelben Tramwagen zeigt, der in einer engen Kurve am blauen Schild «Weiningen» vorbeifährt und auf dessen Seitenwand in roter Schrift LIMMATTAL-STRASSENBAHN steht.
Richtig, die LTB hat eine 120 Jahre ältere Vorfahrin, gleichsam eine Urgrossmutter mit ähnlichem Namen, deren Abkürzung (LSB) den gelben Motorwagen damals den Übernahmen «Lisebethli» beschert hatte. Gegründet wurde die LSB im April 1899, am 1. April 1900 war Baubeginn und bereits am 20. Dezember 1900 wurde die Strecke von der damaligen Zürcher Stadtgrenze beim Letzigraben bis Dietikon (8,8 km) in Betrieb genommen. Im April 1901 folgte die Stichlinie von Schlieren über Unterengstringen nach Weiningen, für die man neben der bestehenden hölzernen Strassenbrücke über die Limmat eine eiserne Trambrücke baute.
Während Jahrzehnten war die elektrische Strassenbahn durchs Limmattal ihrer normalspurigen Schwester, der Nordostbahn (NOB) und später der SBB, technisch weit voraus, denn letztere fuhr im Limmattal noch bis 1925 mit Dampf. Doch dieser Vorteil schützte das Lisebethli letztlich wenig vor dem Neid und dem Konkurrenzdenken der NOB. Diese erlaubte es der LSB nicht, die Gleiskreuzungen zwischen Schmal- und Normalspurbahn mit Passagieren zu befahren. Unterstützt wurde diese Haltung von engstirnigen Beamten des damaligen eidgenössischen Eisenbahndepartements, obschon es anderswo im In- und Ausland solche Restriktionen nicht gegeben hatte.
So mussten die Passagiere der LSB hinter dem Farbhof, beim ehemaligen Bahnübergang der Strecke von Altstetten nach Birmensdorf und Zug/Luzern, erstmals umsteigen und die Geleise zu Fuss überqueren. Das Spiel wiederholte sich beim Bahnhof Schlieren auf der Strecke nach Weiningen. Diese Schikanen machten die Fahrt von Zürich nach Weiningen mit zweimaligem Umsteigen nicht gerade attraktiv, verteuerten für die LSB den Einsatz ihrer Triebwagen und waren schliesslich mitverantwortlich für das frühe Ende der LSB.
Die Wiedergeburt der Linie 20
Tatsächlich musste die Strecke von Schlieren nach Dietikon wegen Geldmangels schon 1928 aufgegeben werden. Im Jahre 1930 wurde die LSB liquidiert. Den Betrieb der verbliebenen Strecke von der Stadtgrenze via Schlieren nach Weiningen übernahmen die Städtischen Strassenbahnen Zürich (StStZ). Sie gaben der Strecke vorerst die Nummer 20, später die Nummer 2. Am 1. Mai 1931 wurde die Linie nach Weiningen stillgelegt, am 1. Januar 1955 diejenige von der Stadtgrenze nach Schlieren.
Heute feiern wir also die Wiedergeburt der Linie 20. Möge es ihr besser gehen als ihrer Vorgängerin. Und möge sie nicht nur ein Transportmittel, sondern auch ein Ort der Begegnung sein, auch für Hunde und frisch Geschiedene.
Zum Schluss eine Quizfrage für Eisenbahn-Liebhaber
Anfangs des 20. Jahrhunderts hatten die schmalspurigen Überlandbahnen im Raum Zürich Hochkonjunktur, nicht nur im Limmattal. Während vieler Jahre existierte eine durchgehende Gleisverbindung von Bremgarten an der Reuss bis nach Wetzikon im Zürcher Oberland. Wer kann das Puzzle zusammensetzen?
(1) Peter Suter u.:a., Die Limmattal-Strassenbahn, Verein Tram-Museum Zürich, TMZ-Dokumentation Nr. 19, 2001