Wie sicher die Quellen sind, aus denen die jüngsten Informationen über Osama bin Ladens letzte Jahre stammen, lässt sich nicht feststellen. Wer immer die Informanten sind, ob amerikanische Geheimagenten oder pakistanische Polizisten, es ist anzunehmen, dass sie mit dem Gang an die Öffentlichkeit bestimmte Ziele verfolgen, auch wenn diese unter Umständen geschickt getarnt sind. Menschenfreundlichkeit ist bestimmt nicht das Motiv. Geheimdienste sind nicht der Wahrheit, sondern dem Erfolg verpflichtet.
Die pakistanische Zeitung „Dawn“ zitiert aus einem einheimischen Polizeibericht vom 19. Januar 2012, den zivile und militärische Ermittler erstellt haben. Der Bericht stützt sich auf Aussagen von Amal Ahmad Abdul Fateh, Osama bin Ladens 30-jähriger Witwe, welche im vergangenen Mai die Kommandoaktion der US-Navy Seals in Abbottabad mit einem Beinschuss überlebte. Zwei weitere Frauen und zwei erwachsene Töchter des saudischen Terroristen überlebten ebenfalls, während Bin Laden, sein 20-jähriger Sohn Khalil, der pakistanische „Kurier“ Abu Ahmad al-Kuwaiti, dessen Frau Bushra sowie dessen Bruder Abrar im Kugelhagel der Elitesoldaten starben.
Seine Kinder, in öffentlichen Spitälern entbunden
Dem Polizeibericht zufolge erzählt Amal, wie sie im Jahr 2000 einwilligte, Osama bin Laden zu heiraten, weil sie „einen Mujahid (heiligen Krieger) ehelichen wollte“. Sie flog im Sommer nach Karachi und und reiste wenige Monate später nach Afghanistan weiter, wo sie sich dem Saudi und zwei weiteren Frauen in seinem Stützpunkt auf einem Gehöft in der Nähe von Kandahar anschloss. Nach 9/11 teilte sich die Grossfamilie auf, und Amal kehrte mit ihrer neu geborenene Tochter Safia für neun Monate nach Pakistan zurück. 2002 reiste die junge Frau von Karachi nach Peshawar, wo sie erneut ihren Mann traf. Von Peshawar sodann zog die Familie Bin Laden in den gebirgigen Nordwesten Pakistans - aber nicht in die praktisch gesetzlosen Stammesgebiete, wo westliche Geheimdienste den Chefterroristen vermuteten.
Erst machte die Familie in einem malerischen Distrikt des Swat-Tals Station, wo sie während acht bis neun Monaten in zwei verschiedenen Häusern lebte, rund 130 Kilometer von der pakistanischen Hauptstadt Islamabad entfernt. 2003 zügelten die Bin Ladens in die Kleinstadt Haripur, wo sie für zwei Jahre ein Haus mieteten und wo 2003 Tochter Aasia und ein Jahr später Sohn Ibrahim zur Welt kamen. Beide Kinder wurden in öffentlichen Spitälern entbunden, wobei sich Amal gegenüber dem Personal jeweils mit gefälschten Papieren auswies und nur wenige Stunden in der Klinik blieb. Mitte 2005 schliesslich zog die Familie laut Amal in die geräumige Villa in Abbottabad ein, wo Bin Ladens Frau noch zwei weitere Kinder gebar, Tochter Zainab 2006 und Sohn Hussain 2008.
Komplizentum des pakistanischen Geheimdienstes?
Der Umstand, dass Osama bin Laden all die Jahre nicht einsam in einer abgelegenen Höhle im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet, sondern direkt unter der einheimischen Bevölkerung gelebt hat, dürfte nicht eben den Verdacht ausräumen, dass er den Schutz zumindest einiger Angehöriger der pakistanischen Sicherheitskräfte, insbesondere des Armeegeheimdienstes ISI, genoss – ein Verdacht, den die Pakistaner entschieden zurückweisen und zu dessen Erhärtung die USA bisher keine Beweise gefunden haben. „Von Peshawar über Swat und Haripur nach Abbottabad hat der Mann, der für die Anschläge von 9/11 verantwortlich war, irgendwie während Monaten und in einigen Fällen während Jahren inmitten der Bevölkerung Pakistans Unterschlupf gefunden“, schrieb die englischsprachige „Dawn“ in einem Leitartikel zum Polizeibericht: „Währenddessen dementierten Vertreter der pakistanischen Regierung, dass sie seinen Aufenthaltsort kennen würden. Und General Musharraf behauptete sogar, er (Bin Laden) sei entweder tot oder verstecke sich in Afghanistan oder den Stammesgebieten.“
Das in Karachi erscheinende Blatt forderte, es sei notwendig, die Schwachstellen im System zu finden und auszumerzen, falls der pakistanische Geheimdienst in der Tat unfähig genug gewesen sei, Bin Ladens Präsenz für so lange Zeit und an so vielen verschiedenen Orten zu übersehen: „Und falls das Versagen mehr mit Komplizentum als mit Unfähigkeit zu tun hat, so ist es umso wichtiger, herauszufinden, wie, warum und auf welchen Ebenen unsere Institutionen unterwandert worden sind.“
Attentat auf Obama geplant?
Derweil hat David Ignatius, ein Kolumnist der „Washington Post“, Einsicht in einige der Tausenden von Dokumenten erhalten, welche die Navy Seals in der Nacht des 2. Mai 2011 in Osama bin Ladens Villa in Abbottabad beschlagnahmten. Die Unterlagen sind noch geheim, sollen aber demnächst für die Öffentlichkeit zugänglich werden. Aus den Dokumenten geht unter anderem hervor, dass der Führer al-Qaidas plante, Terroristenzellen Attentate auf Flugzeuge ausführen zu lassen, in denen Präsident Barack Obama und General David Petraeus, einst Oberkommandierender der Koalitionstruppen in Afghanistan und heute Direktor der CIA, geflogen wären.
Obamas Tod, so räsonierte Bin Laden gegenüber einem Untergebenen, würde automatisch Vizepräsident Joseph R. Biden zum amerikanischen Präsidenten machen: „Biden ist für dieses Amt überhaupt nicht vorbereitet, was die USA in eine Krise stürzen würde. Und was Petraeus betrifft, so ist er der Mann der Stunde…und ihn zu töten würde den Verlauf des Krieges in Afghanistan ändern.“ Dagegen haben Regierungsvertreter in Washington verlauten lassen, es habe zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr bestanden, dass die Attentatspläne hätten umgesetzt werden können. Unter anderem auch deswegen nicht, weil es al-Qaida an geeigneten Waffen mangle, um ein hoch geschütztes Flugzeug wie die „Air Force One“ abzuschiessen. Trotzdem warnen amerikanische Experten davor, die Gefahr zu unterschätzen, die nach wie vor von Bin Ladens Netzwerk ausgeht.
„Bin Laden, so wie ihn diese Unterlagen zeigen, ist ein Chefterrorist, der in seinem Gehöft isoliert ist und sich grämt, dass seine Organisation ihren Ruf ruiniert hat, weil sie im Heiligen Krieg gegen Amerika zu viele Muslime getötet hat“, folgert David Ignatius in seiner „Post“-Kolumne: „Er (Bin Laden) schreibt über die vielen verstorbenen ‚Brüder’, die Opfer amerikanischer Drohnenangriffe geworden sind. In seinem Versteck in Abbottabad ist er selbst aber weit vom Schlachtfeld entfernt und scheint viel Zeit damit zu verbringen, Fernsehen zu schauen.“ Der Saudi, den Experten zufolge „eine grosse Furcht vor Bedeutungslosigkeit“ umtrieb, beschäftigte sich in Pakistan ferner mit islamischer Theologie und sorgte sich, ob al-Qaida, deren Image er nachhaltig beschädigt sah, nicht einen neuen Namen brauchte, mit dem Muslime sich leichter identifizieren konnten.
Was al-Qaidas Strategie betrifft, so sah Osama bin Laden im Jemen die grösste Chance, einen strikt islamischen Staat zu errichten. Der Jemen war ihm zufolge die Startrampe für Angriffe auf die Ölstaaten am Persischen Golf: „Die Kontrolle dieser Nationen würde die Herrschaft über die Welt bedeuten.“ Bin Laden riet seinen Gefolgsleuten aber, mit einer Operation im Süden der arabischen Halbinsel zuzuwarten. Die Muslimbrüder hätten in den frühen 80er-Jahren in Syrien (gegen Hafiz al-Assad) zu hart gekämpft und „eine ganze Generation Männer“ verloren (in der Stadt Hama sind damals laut Schätzungen bei Angriffen syrischer Regierungstruppen mindestens 10 000 Menschen getötet worden).
Ein Gefühl der Trauer, glaubt David Ignatius zu spüren, spreche aus jenen Schriften Bin Ladens, die er habe einsehen können: Trauer über den Verlust von Freunden, aber auch Trauer darüber, dass al-Qaida ihr Sendungsbewusstsein verloren hatte: „Er lebte in einer eingeengten Welt, in der er und seine Anhänger von den USA so erbarmungslos gejagt wurden, dass sie kaum mehr untereinander kommunizieren konnten.“ Der Kolumnist vergleicht denn Osama bin Laden mit „einem Löwen im Winter.“
Quellen: „Washington Post“, „The New York Times“, „The Atlantic“, AP