Der Waadtländer Jean-Pierre Hocké, 1938 geboren, war unter Genfer Journalisten ein beliebter Mann. Jahrelang war er operationeller Direktor beim IKRK, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. 1985 wurde er auf amerikanisches Drängen hin zum Chef einer der wichtigsten UNO-Organisationen gewählt: dem UNO-Hochkommissariat für das Flüchtlingswesen (UNHCR). Dann folgten turbulente Jahre.
Diese Jahre beschreibt nun einer, der es wissen müsste: Alexander Casella, genannt Sacha. Er arbeitete zwanzig Jahre lang im innersten Kreis des UNHCR. Er war einer der Genfer Direktoren und leitete Einsätze in aller Welt. „Breaking the Rules“ heissen die 370 Seiten dicken Memoiren, die demnächst als E-Book ins Netz gestellt werden *). In der Schweiz interessiert vor allem die Beschreibung der „Affäre Hocké“.
Das UNHCR ist eine der wichtigsten UNO-Organisationen. Sie betreut heute mehr als 40 Millionen Flüchtlinge und verfügt über ein Budget von mehr als drei Milliarden Dollar. Ende 1985 musste ein neuer Chef für die Riesenorganisation gefunden werden.
Hocké, „einfallsreich und entscheidungsfreudig“
Die Amtszeit des Dänen Paul Hartling neigte sich zu Ende. Wer wird neuer UNO-Hochkommissar für das Flüchtlingswesen? Die USA, die bei der Besetzung solcher Posten ein entscheidendes Wort mitreden, schlugen Hocké vor. Auch Casella setzte sich für den Schweizer ein und bezeichnete ihn als „einfallsreich und entscheidungsfreudig“.
Laut Casella wusste Hocké „mit guten Ratschlägen umzugehen“. Es sei nicht ganz einfach gewesen, die Schweizer Regierung von Hocké zu überzeugen, denn „er gehörte nicht zum Schweizerischen Establishment und seine etwas herrische Art standen im Kontrast mit den eher traditionellen, um nicht zu sagen vorsichtigen Vorgehensweisen in der Schweiz“.
Weltweit begannen jetzt die USA für Hocké zu lobbyieren. Der ernsthafteste Gegenkandidat, der Ägypter Boutros Boutros Ghali, wurde sanft ausgeschaltet (er wurde später UNO-Generalsekretär). Ende Jahr wurde Hocké bestätigt.
“Unangefochtener Top-Dog“
Nur wenige Hochkommissare hätten so grosse Erwartungen geschürt wie Hocké bei seinem Amtsantritt, schreibt der in Genf lebende Casella. „Er war jung, Mitte 40, bekannt als Mann der Tat mit wenig Geduld für Bürokratie und Routine“. Es war die Zeit eines Aufbruchs. Die letzten Jahre mit Hartling, einem früheren dänischen Aussenminister und Ministerpräsidenten, waren „enttäuschend“. Ein Vierer-Direktorium „verbrachte die meiste Zeit damit, sich zu streiten“.
Hocké war schnell der „unangefochtene Top-Dog“ schreibt Casella. Er habe sich mit Leuten umgeben, die ihm tief ergeben waren. Seine unkonventionelle Personalpolitik habe schnell da und dort Stirnrunzeln ausgelöst. Innert kürzester Zeit habe Hocké viel Goodwill verloren. „Der frühe Enthusiasmus, mit dem er begrüsst wurde, wich einer Wait-and-See-Haltung“.
Schnell begann Hocké die Organisation grundlegend umzubauen. Wichtige Direktoren mussten den Hauptsitz in Genf verlassen. „Im Herzen war er ein Anarchist, der impulsiv handelte“, schreibt Casella. Immer mehr habe sich sein Chef von Feinden umzingelt gefühlt. Fassungslosigkeit machte sich breit. Die Finanzen lagen im Argen, die Reserven gingen aus, und trotzdem wurden überbezahlte Berater angestellt.
Gebete im Büro des Vize-Chefs
Casella beklagt auch das fehlende politische Feeling seines obersten Chefs. So sei Hocké nach Afghanistan eingeladen worden, wo die Sowjets einen Krieg gegen die Mudjahedin führten. Moskau wollte öffentlich demonstrieren, wie entspannt die Lage sei – so entspannt, dass selbst Flüchtlinge von Pakistan wieder nach Afghanistan zurückkehrten. Hocké hätte dabei sein sollen, wie eine solche Flüchtlingsgruppe in Kabul empfangen wurde – ein Propagandacoup der Sowjets. Die Amerikaner schäumten vor Wut, vor allem deshalb, weil wegen der sowjetischen Präsenz in Afghanistan Millionen Flüchtlinge in Iran und Pakistan lebten. Hocké verzichtete schliesslich auf die Reise.
Immer mehr entwickelte er laut Casella eine tiefe Abneigung gegen das UNO-System. Er wollte das UNHCR organisatorisch aus der UNO herauslösen. Vor allem wollte er sich auch vom starken Einfluss der USA befreien. Einmal lehnte er sogar eine kleinere amerikanische Zusatz-Geldspende ab. Die Amerikaner bezahlten trotzdem.
Einer seiner grössten Fehler war die Entmachtung seines Vize, des Amerikaners Gene Dewey. Er, einst Chef des amerikanischen Flüchtlingsbüros, war es, der als Erster für Hocké lobbyiert hatte. Nun wurde er kalt gestellt.
Dewey rief jetzt in der Mittagspause das Personal zu Gebeten in seinem Büro auf. Hocké war es laut Casella gelungen, den Staff, die ganze Belegschaft und die Geberstaaten gegen sich aufzubringen. 1988 lief sein Mandat aus und die USA suchten „verzweifelt einen geeigneten Ersatzkandidaten“. Doch es fand sich keiner, und so wurde Hocké erneut gewählt – allerdings nicht wie üblich auf fünf, sondern nur auf drei Jahre.
“Ich war für die Guillotine bestimmt“
Im Januar 1989 begann der Streit zwischen Hocké und Casella. „Ich war für die Guillotine bestimmt“, schreibt Casella. Hocké wollte ihn loswerden und von Genf wegschicken. Ab jetzt erhält das Buch eine sehr persönliche Note. „Hockés Wiederwahl war ein Desaster“ stellt Casella fest. Er betont, dass diese Ansicht im ganzen Haus weitverbreitet gewesen sei, vor allem bei den Top-Leuten. Zu diesen gehörte Sergio Vieira de Mello, der aufsteigende Stern in der UNO-Diplomatie. Der Brasilianer, einer der besten Kräfte, die die UNO je hatte, ist später bei einem Bombenattentat in Bagdad ums Leben gekommen.
Sergio, wie ihn alle nannten, habe über Hocké gesagt „This man is beyond salvation“ (etwa: jenseits von Gut und Böse). Allen war klar: Hocké muss gestürzt werden. Casella betont: „Ich arbeitete jetzt daraufhin, Hocké loszuwerden, bevor er mich los wurde“.
Die Beziehungen zwischen dem UNHCR und dem Bundesrat hätten sich immer mehr verschlechtert. Auch schweizerische Flüchtlingskreise waren auf Hocké nicht mehr gut zu sprechen, sagt Casella. Das Personal am Genfer Hauptsitz sei demoralisiert gewesen, doch in der UNO habe sich keiner darum gekümmert. Casella: „Hocké musste also von ausserhalb des diplomatischen Establishments gestürzt werden“. Wie? „Ich hatte den Sprengstoff in der Hand“, schreibt Casella, „doch ich brauchte noch die Zündschnur, um ihn zur Explosion zu bringen.“
Mit der Concorde nach New York, First Class-Tickets für die Frau
Sergio Vieira de Mello, erwähnte Casella gegenüber, dass Hocké auf seinen Reisen nach New York stets die Concorde benutze. Auch seine Frau fliege Concorde. Doch nicht nur das: Auf allen übrigen Flügen buche Hocké und seine Frau First Class. Laut den UNO-Regeln darf nur der UNO-Generalsekretär erste Klasse fliegen. Die übrigen Staff-Mitglieder müssen, je nach Länge der Reise, Business oder Economy buchen.
Aber: Es war ein offenes Geheimnis, dass auch Poul Hartling, Hockés Vorgänger, erste Klasse flog. Nur: Die dänische Regierung zahlte aus einem Spezialfonds den Aufpreis für den nicht mehr ganz jungen Hartling – als Anerkennung für seine früheren Verdienste als Ministerpräsident. Hartling hatte UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim informiert, dass ihm die dänische Regierung Erstklasse-Flüge ermögliche. Waldheim sagte, das sei zwar nicht ganz legal, weil UNO-Chefs von Regierungen unabhängig sein sollten, doch er solle es weiterhin diskret tun.
Laut Casella flog Hocké nicht nur erste Klasse, er lud seine engen Mitarbeitenden auch zu üppigen Essen mit den teuersten Weinen ein. Von wo kam das Geld für diese Extravaganzen? Sergio sei überzeugt gewesen, dass es von jenem dänischen Konto kam, aus dem Hartlings Zusatzleistungen finanziert wurden. Doch Beweise gab es keine.
Dann kam der Durchbruch. Im Finanzdepartement des UNHCR verschaffte sich jemand Zugang zu Hockés persönlichen Abrechnungen. Da fand man nun Rechnung um Rechnung, unterschrieben von Hocké: Rechnungen für die Concorde und für andere Erstklasse-Flüge – alles bezahlt aus dem dänischen Fonds. „The smoking gun war gefunden“, schreibt Casella.
Laut eigenen Angaben stellte er nun eine detaillierte Dokumentation über Hockés Vergehen zusammen. Sein Rapport sollte heissen: „Die Finanzkrise des UNHCR – ein von einem Menschen geschaffenes Desaster“ („A man-made disaster“).
Hauptaussage: Hocké und Hocké allein war verantwortlich für die finanzielle Katastrophe des UNHCR. Er zählt mehrere Fälle auf, wie Hocké Geld verschwendet haben soll. Der Autor erklärt, er habe fünf Kopien angefertigt. Er lässt klar durchblicken, dass er diese den Medien zukommen lassen wollte.
“Stop, stop, haltet die Kamera an“
Doch diese interessierten sich zunächst nicht. Hocké, der frühere IKRK-Star, hatte immer noch enge und gute Beziehungen zu den Westschweizer Journalisten. Sie waren unwillig, Hocké auffliegen zu lassen. Dann kam das Deutschschweizer Fernsehen. Andreas Kohlschütter, laut Casella „einer der prominentesten Deutschschweizer TV-Journalisten“ hatte von Problemen erfahren, rief Casella an und bat um eine Interview mit Hocké. Der Medienabteilung hätten alle Alarmglocken schrillen müssen. Doch der neue Medienchef, ein Algerier, hatte keine Ahnung von der Deutschschweizer Medienszene und arrangierte das Interview.
Hocké erklärte im Interview zunächst des langen und breiten, dass die reichen Staaten zu wenig Finanzhilfe für die Flüchtlinge leisteten. Deshalb müsse das UNHCR den Gürtel enger schnallen.
Vor laufender Kamera sagte jetzt Kohlschütter, es gebe Gerüchte, wonach Hocké erste Klasse fliege. „Das ist nicht wahr“, erwiderte der Hochkommissar „ich fliege nur erste Klasse, wenn mir die Fluggesellschaft ein Upgrade schenkt“.
„Und was ist denn das?“ fragte Kohlschütter und zog zwei Rechnungen hervor, die von Hocké unterschrieben wurden. „Das ist eine Rechnung für die Concorde und hier ein Erstklasse-Ticket für die Reise ihrer Frau nach Australien“. „Stop, stop, stellt die Kamera ab“, schrie nun Hocké. Es war das Ende des Interviews. Der TV-Beitrag zeigte dann zunächst schöne Bilder aus dem Erstklasse-Abteil eines Flugzeugs, sanfte Musik, schöne Stewardessen, Champagnergläser. Dann eine langsame Überblendung auf Flüchtlingslager in Afrika. Und jetzt die Einblendung von Hocké und seine Worte: „Stop, stop, stellt die Kamera ab“.
“Ein Funken kann einen Flächenbrand auslösen“
„Der Fernsehbeitrag allein hätte wohl nicht Hocké gestürzt“, schreibt Casella. „Doch, wie sagte Mao: Ein Funken kann einen Flächenbrand auslösen“. Jetzt schlug auch der Genfer Korrespondent der New York Times in die Kerbe – mit Informationen aus Washington. Und Anne Mette Skipper, die Genfer Korrespondentin der grössten dänischen Zeitung, Jyllands-Posten, alarmierte ihr Land. Die Geschichten um Hocké und seine verwendeten dänischen Gelder, standen lange Zeit auf der Titelseite der dänischen Zeitungen.
Am 25. Oktober 1989 weilte Hocké in New York. UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar liess ihm mitteilen, er müsse gehen. Hocké verfasste sein Rücktrittsschreiben und flog nach Genf zurück. Es war vereinbart worden, dass er zuerst seinen Staff und dann die Öffentlichkeit informiert. Doch in New York traute man Hocké nicht und fürchtete, er würde zurückkrebsen. So veröffentlichte man das Rücktrittsschreiben kurz nach dem Start von Hockés Flugzeug in New York.
Sein Hauptfehler war nicht die Concorde
Casellas Buch liefert viele neue Details zur „Affäre Hocké“. Zum Verdienst des Autors gehört es, dass er immer betont, dass sich die beiden nicht mochten. So kann der Leser einiges relativieren. Sergio Vieira de Mello wird in dem Buch als Anführer des Putsches, als Drachentöter dargestellt. War er das wirklich? Er kann sich nicht mehr äussern.
Hocké war angetreten, um alte Strukturen des verkrusteten UNO-Betriebs aufzubrechen. Das war begrüssenswert. Natürlich war es wenig im Sinn der alteingesessenen UNO-Diplomaten. Hocké wollte alles immer sofort. Er verfügte über eine fast grenzenlose Energie, er hatte gute Ideen und lancierte Initiativen. Sein Verhängnis war sein stürmischer „anarchischer Charakter“, wie Casella sagt.
Er schaufelte sich sein Grab, weil er meinte, er könne den Amerikanern die Stirn bieten, sie, die grössten Beitragszahler. Indem er Gene Dewey, seinen Vize kaltstellte, beging er einen kapitalen Unsinn.
Dass er auch mit seinem Heimatland Probleme kriegte, hatte einen fast ehrenhaften Grund. Der Bundesrat und der Delegierte des Bundesrates für das Flüchtlingswesen, wollten viele tamilische Flüchtlinge abschieben. Hocké wehrte sich rabiat und wenig diplomatisch.
Man stolpert über Maulwurfhügel
Von den Leistungen, die Hocké für die Flüchtlinge erbracht hat, steht in dem Buch gar nichts. Doch gerade in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre leistete das UNHCR zum Teil Hervorragendes, vor allem in Afghanistan, Pakistan, in Iran und in Afrika.
Medien aus der Westschweiz und aus Frankreich wollten Hocké zunächst nicht stürzen. Das Westschweizer Fernsehen verfügte über eine Kopie der Anschuldigungen, machte aber nichts daraus. Das Deutschschweizer Fernsehen war da sehr willkommen.
Hocké stürzte nicht wegen der Concorde. Sie war nur der Anlass zum Gnadenstoss. Einige lumpige zehntausend Dollar aus einem dänischen Fonds kosteten ihm den Kopf – Geld, das er bei seinem Salär hätte spielend aufbringen können. Wie sagte Konfuzius: Man stolpert nicht über Berge, man stolpert über Maulwurfhaufen. Oder über Zimmermädchen.
*) Alexander Casella, Breaking the rules, 2011, Editions du Tricorne, Geneva