Wir kennen den Placebo-Effekt: Ein Mittel wirkt, obwohl es keine Wirkstoffe enthält. Es wirkt über unsere Psyche, spricht uns an. Das lateinische „Placebo“ stammt aus dem liturgischen Kontext einer Totenvesper und bedeutet „Ich werde (dem Herrn) gefallen.“ Ein Placebo soll dem Patienten gefallen, statt zu wirken.
Nun kann man diesen Effekt auch im Geistigen beobachten: Viele Ideen sind überholt, falsch, Unsinn, und doch gefallen sie uns, wirken sie trotz ihrer Unrichtigkeit: Placebo-Ideen.* Wir zeigen oft eine seltsame Renitenz gegenüber neuen Ideen, die wir als Zumutung und Schock empfinden, und wir suchen Zuflucht in familiären oder in alten Gedankengebäuden, auch wenn es sich um Ruinen handeln mag.
Eine flache Aufklärungsmentalität diagnostiziert hier gern Borniertheit, geistigen Provinzialismus oder Rückwärtsgewandheit. Aber der Vorwurf der Borniertheit entlarvt sich als Borniertheit des Vorwurfs. Placebo-Ideen geben uns einen wichtigen Hinweis auf unseren intellektuellen und psychischen Haushalt. Oder sagen wir es so: Die moderne Wissenschaft konfrontiert uns anhaltend mit neuen Ideen, die uns nicht gefallen. Deshalb greifen wir zurück auf alte Ideen, die wissenschaftlich gesehen wahrscheinlich falsch sind, uns aber gefallen. Betrachten wir kurz vier Beispiele.
Ein Plan in der Evolution
Die Idee der Evolution räumt auf mit der Vorstellung eines Plans in der Natur. Das ist ein Affront, denn wir Menschen sehen die Welt primär durch die intentionale Brille: Wir sehen Sinn, Zwecke, Absichten. Darwin gab uns ein Mittel in die Hand, konkrete, überprüfbare Geschichten zu erzählen, wie die Vielfalt der Formen in der Natur entstanden ist – ohne göttliche Absicht, ohne Planung. Evolution heisst: kombinierte Aktion von Zufall (Mutation) und Auswahl (Selektion); keine Teleologie, sondern ein ziellloses Herumbasteln und -probieren an der ungeheuren Fülle organischen Materials, in minimalen Schritten, über drei bis fünf Jahrmilliarden hinweg.
Fürwahr ein schwer verdaulicher Brocken. Ein früher (anonymer) Kritiker Darwins formulierte schon 1867 scharfsichtig: „In der Theorie, mit der wir uns befassen, ist Absolute Ignoranz die Erbauerin (...) Um eine vollkommene und schöne Maschine zu bauen, ist es nicht nötig zu wissen, wie wir das tun sollen (...) In seltsamer Umkehrung der Beweisführung scheint Mr. Darwin die Absolute Ignoranz für durchaus fähig zu halten, an die Stelle der Absoluten Weisheit in den Hervorbringungen schöpferischer Fähigkeit zu treten.“
Vielen gefällt dieser Einwand auch heute noch. Wir wollen in einer Welt leben, die „entworfen“ ist. 2012 versuchte der renommierte amerikanische Philosoph Thomas Nagel diesem Einwand eine philosophische Fassung zu geben, in einem schmalen Buch mit dem Titel „Mind and Cosmos“. Der Neodarwinismus sei ein „in sich“ unvollständiges Paradigma, weil es ihm bisher nicht gelang und und auch künftig nicht gelingen werde, das Phänomen des Geistes in der Natur zu erklären. „Es erscheint auf Anhieb höchst unplausibel, dass das uns bekannte Leben das Resultat einer Reihe physikalischer Zufälle in Verbindung mit dem Mechanismus der natürlichen Auslese ist,“ schreibt Nagel. Er wurde für diese Meinung arg verrissen und sogar in die Ecke der Intelligent-Design-Verfechter gestellt. Dabei mahnte er der Wissenschaft nur etwas Selbstverständliches an: die Grenzen ihrer Theorien zu sehen.
Die „letzte“ Theorie
Dass unser Universum so ist, wie es ist, muss einen Grund haben, sagen wir uns. Die Physiker suchen diesen Grund heute in einer Idee, die im Brennpunkt heftiger Debatten steht, die Idee des Multiversums: Wir leben nicht in einer, in unserer Welt, wir leben in einer Unendlichkeit möglicher Welten, von denen eine zufällig die unsere ist.
Man fühlt sich auf Anhieb vor den Kopf gestossen: Ist das noch Wissenschaft und nicht eher metaphysischer Mumpitz? Wie wollen wir uns versichern, dass dieses Multiversum wirklich existiert? Wir können ja nur beobachten, was in unserem Universum geschieht! Und so gesehen, erscheint der Fall hoffnungslos: Die Idee lässt sich nicht einmal falsifizieren. Also hat sie überhaupt keinen wissenschaftlichen Wert – zumindest nach dem berühmten Falsifikationskriterium von Karl Popper.
Und trotzdem gefällt sie nicht wenigen Physikern. Die Aussicht auf eine Hypertheorie fasziniert, die erklärt, warum unser Universum gerade so ist und nicht anders. Der Astrophysiker Martin Rees liebäugelt mit einer solchen ultimativen Sicht: „Vielleicht werden wir eines Tages eine überzeugende Theorie des Beginns unseres Universums haben; eine Theorie, die uns sagt, ob ein Multiversum existiert, und – falls so – ob einige sogenannte Naturgesetze bloss die provinzielle Gemeindeordnung in jenem kosmischen Flecken sind, in dem wir leben.“
Vielleicht – aber wie soll eine solche Theorie zu rechtfertigen sein? Niemand weiss es. Kritiker sehen in der Attraktivität, welche die Idee des Multiversums gegenwärtig geniesst, schlichtweg ein Verfallssymptom der Wissenschaft. Sie werde nun ebenfalls postfaktisch.
Der umstrittene freie Wille
Neurobiologen sprechen dem Menschen schon seit einiger Zeit den freien Willen ab. Die Idee sei eine Illusion. Und warum? Weil der Mensch ein Organismus ist, in dem sich physiologische Prozesse abspielen. Physiologische Prozesse aber sind der Kausalität von Gesetzen unterworfen. Schauen wir ins Gehirn, so entdecken wir nur solche Prozesse im Neuronennetz, ein freier Wille – der nicht den Gesetzen unterworfen wäre – ist nicht auszumachen. Mit dem Argument verbindet sich häufig auch der offensive pseudoaufklärerische Anspruch einer Definitionshoheit über das Reich des Menschlich-Allzumenschlichen.
Und dennoch gefällt uns die Idee des freien Willens, was immer die Hirnforscher uns auftischen. Wir wollen nicht blosse Objekte in einem deterministischen Getriebe sein. „Und wo bleibt die Verantwortung?“ fragen wir. Der Hirnforscher Michael Gazzaniga leugnet aus wissenschaftlichen Gründen den freien Willen, versichert uns aber in seinem Buch „Die Ich-Illusion“, dass es keinen wissenschaftlichen Grund gebe, Menschen nicht für verantwortlich zu halten. Das ist ziemlich ungereimt, denn warum sollte man dann nicht ebenso berechtigt sagen können: Es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, Menschen den freien Willen abzusprechen. All die Desillusionierer des freien Willens drehen sich im Laufrad ihrer eigenen Illusion, hirnphysiologisch nachweisen zu können, dass dieser Wille nicht existiert.
Ob im Übrigen der freie Wille eine Illusion, eine wissenschaftliche Black Box oder was auch immer ist: Die Placebowirkung der Idee liegt allein schon in ihrer sozialen Implikation. Die Psychologin Kathleen D. Vohs und der Marketingforscher Jonathan W. Schuler haben 2008 anhand von Experimenten gezeigt, dass Probanden, die überzeugt sind, keinen freien Willen zu haben, auch zu unehrlichen und unverantwortlichen Handlungen neigen. Der Titel ihres Artikels: „Der Glaube an den Determinismus ermuntert betrügerisches Verhalten.“
Die hartnäckige Idee der Magie
Seit seinem Erscheinen im Holozän ist der Mensch wohl vom Gedanken beherrscht, die Dinge durch Beschwörung oder Gebet beeinflussen zu können. Das ist die Idee der Magie, also der spirituellen Macht über die Dinge. Sie ist weit verbreitet. Nur so lässt sich zum Beispiel der Riesenerfolg des Buches von Marie Kondo erklären „Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert“ (2013).
Frau Kondo reanimiert eine animistische Haltung im Haushalt. Sie empfiehlt, den Dingen eine besondere, „magische“ Aufmerksamkeit zu schenken, sich sozusagen in deren Perspektive zu versetzen. Wenn man also zum Beispiel Socken oder Strumpfhosen ordnen will, sollte man dies „um der Socken und Strumpfhosen willen“ tun. Das heisst, man sollte sich innewerden, dass Socken in ihrer alltäglichen Dienstleistung eine „brutale Behandlung“ erleiden, „gefangen zwischen Fuss und Schuh“; dass sie „Druck und Reibung aushalten müssen, um unsere kostbaren Füsse zu schützen.“ Aus diesem Grund sollte man sie liebevoll falten, denn so macht man sie „viel glücklicher“ und sie geben einen „Stossseufzer der Erleichterung“ von sich.
Frau Kondo empfiehlt sogar, mit unseren Textilien zu reden: „Wenn wir sie falten, sollten wir unseren Kleidern danken, dass sie unsere Körper beschützen.“ Dank ist auch angesagt, wenn es darum geht, ein Kleidungsstück wegzuwerfen: „Ich danke dir für die Freude, die du mir bereitet hast.“ Derart innerlich entrümpelt kann man dann das Textil getrost auf den Altkleiderhaufen schmeissen.
Für wie bescheuert man all dies auch hält, so macht sich hier eben doch die alte animistische Idee der Belebtheit des Dings bemerkbar. Die Idee gefällt uns. Frau Kondos Rückkehr zu einer animistischen Haltung gegenüber den Dingen liesse sich als Reaktion auf einen entseelten Kosmos der Waren interpretieren, in dem die besinnungslose Konsum- und Wegwerfhaltung die Dinge „entweiht“. Die „beseelende“ Einstellung zum Ding hat eine „heilende“ Wirkung.
Jenseits von Gut und Böse
Die Placebo-Idee ist nicht ungefährlich, verbirgt sich in ihr doch der infektiöse Gedanke Nietzsches, dass Falschheit nicht nur nützlich, sondern geradezu lebensfördernd sein kann. So lesen wir in „Jenseits von Gut und Böse“: „Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urteile (...) die unentbehrlichsten sind (...). Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Wertgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.“ (Par. 4)
Wir wissen, wie es Nietzsche in diesem Jenseits ergangen ist. Placebo-Ideen bieten vielleicht einen weniger „gefährlichen“ Weg an, mit der Unwahrheit umzugehen. Sie gewähren ein inneres Gleichgewicht in einem Umfeld, in dem uns die Wissenschaft mit immer entlegeneren Ideen und abstruseren Ambitionen von einem Schwindelanfall zum nächsten treibt.
Gefallsüchtige Unwahrheit
Ich vermute, jede und jeder von uns hegen insgeheim Placebo-Ideen; gewöhnliche wie die Idee des Grundeinkommens für alle, die Idee, dass Pflanzen auf gutes Zureden „hören“ oder dass der „böse Blick“ schadet, bis zu abseitigeren Ideen wie das Takeover durch Aliens, Weltverschwörungen oder Telekinese. Man kann endlos über solche Ideen debattieren. Hüten wir uns dabei nur vor einer Missdeutung. Dass sie gefällt, ist bestenfalls ein halbrationaler Grund, an irgendeiner Meinung festzuhalten. Placebo-Ideen bieten nicht eine „Alternative“ zur Wissenschaft an. Und sie bestehen meist nicht vor dem Tribunal der Objektivität. Sie sind vielmehr ein Appell zu ständiger Selbstprüfung: Was uns gefällt, verdient einen zweiten, einen scheelen Blick. Denn Unwahrheit ist unheimlich gefallsüchtig.
* Geprägt hat den Begriff der Wissenschaftspublizist Steven Poole in: Rethink. The Surprising History of New Ideas, London, 2016