Noch vor kurzem gaben sich viele Nordkorea-Pundits, Diplomaten und assortierte Journalisten optimistisch oder zumindest vorsichtig optimistisch. Doch was hinter dem letzten Eisernen Vorhang des längst entschwundenen Kalten Krieges vor sich geht, weiss niemand wirklich. Nicht einmal in Südkorea.
Der Grund für zunehmende westliche Zuversicht war das lockere Auftreten von Kim Jong-un, Sohn des am 17. Dezember verstorbenen „Geliebten Führers“ Kim Jong-il und Enkel von Kim Il-sung.
Der junge Kim, jahrelang inkognito auch in der Schweiz im bernischen Liebefeld eingeschult, brachte im Vergleich zu seinem stets ernsten und schweigsamen Vater einen neuen Stil ins dröge Propaganda-Umfeld Nordkoreas. Zur Freude der Fernseh-News-Produzenten profiliert sich der „Junge General“ offen, locker, freundlich. Er wandte sich hin und wieder direkt ans Volk, besuchte mal ein Vergnügungspark, mal instruierte er jovial Arbeiter und Arbeiterinnen, küsste Babies und – Gipfel der Annäherung zum Volk – zeigte sich mit seiner hübschen jungen Gattin.
Heisse Luft
Im Westen begann man vorsichtig von Reformen zu raunen. Ausser Absichtserklärungen, Verträgen, Gesprächen zwischen hochrangigen Vertretern aus China und Nordkorea über zwei Sonderwirtschaftszonen ist noch nichts Handfestes beizubringen. Vollmundig blusterte sich Kim Jong-un noch auf und kündigte umfassende Wirtschaftsreformen an.
Nordkorea, am Hungertuch nagend und am Tropf der internationalen Nahrungsmittelhilfe hängend, hätte Reformen dringend nötig. Die nordkoreanische Wirtschaft befindet sich in einem desolaten Zustand und hätte doch so viel zu bieten: reichliche und zum Teil seltene Bodenschätze und gut ausgebildete Arbeiterinnen und Arbeiter. Doch Kims Auftritte sind – vorerst – Form und nicht Inhalt. Heisse Luft also.
Innenpolitische Lappalien wie Wirtschaft und Hunger
Der knapp Dreissigjährige sitzt über ein Jahr nach dem Tod seines Vaters offenbar fest im Sattel. Er ist so mächtig wie sein Vater zuvor. Auf dem Papier wenigstens. Er ist der „Grosse Führer“, Vorsitzender der Koreanischen Arbeiterpartei, Oberkommandierender der Armee, Vorsitzender der Militärkommission der Partei. Dazu wurde der – wie ihn die Propaganda liebvoll nennt – „Junge General“ und „Grosse Nachfolger“ auch noch zum Marschall befördert. Weiter nach oben geht es nimmer. Zu Lebzeiten jedenfalls. Erst nach dem Tod sind weitere Hierarchie-Stufen möglich. Kim Jong-uns 1994 verstorbener Grossvater Kim Il-sung wurde zum „Präsidenten in alle Ewigkeit“ sowie zum „Gross-Marschall“ ernannt und der im Dezember verstorbene Vater Kim Jong-il erlangte den Titel eines „Generalissimo“.
Doch offensichtlich begnügt sich der junge Kim nicht mit innenpolitischen Lappalien wie Wirtschaft und Bekämpfung des Hungers. Nur wenige Monate nach dem Tod seines Vaters liess er – als Satellitenstart verbrämt – eine Langstreckenrakete in den Himmel über dem Ostchinesischen Meer steigen. Ein eklatanter Misserfolg. Im Dezember legte er nach. Diesmal klappte es. Anfangs September gar liess die offizielle Nordkoreanische Nachrichtenagentur in der gewohnt blumig-scharfen Propagandasprachen verlauten: „Unsere nukleare Abschreckung wird über die Vorstellungskraft der USA hinaus modernisiert und erweitert“.
Die USA zum Ziel
Den Worten sollen offenbar nun Taten folgen. Als Reaktion auf die mit den Stimmen von China und Russland gegen Nordkorea verhängten UNO-Sanktionen hat Pjöngjang jetzt den Ausbau seiner militärischen und atomaren Abschreckung angekündigt. Die nordkoreanische Verteidigungskommission erklärte ungerührt zuhanden der internationalen Öffentlichkeit: „Wir verheimlichen nicht, dass die verschiedenen Satelliten und Langstreckenraketen, die wir starten, und der Atomtest, den wir ausführen werden, die USA zum Ziel haben".
Zudem werde sich Pjöngjang nicht mehr an den Pekinger Sechser-Gesprächen (Nord- und Südkorea, Japan, Russland, China und die USA) über die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone auf der koreanischen Halbinsel beteiligen. Bei einer Einstellung seines Atomprogramms versprachen insbesondere Südkorea, Japan und die USA grosszügige Wirtschafts- und Nahrungsmittelhilfe.
"Sanktionen bedeuten Krieg"
In Südkorea reagierte man auf das nukleare Vorpreschen des nördlichen Nachbarn vorerst mit Zurückhaltung. Pjöngjang freilich bedrohte wie üblich Soeul in rüdem Propagandaton: "Sanktionen bedeuten Krieg und eine Kriegserklärung gegen uns". Nordkoreas Wiedervereinigungskommission setzte noch eins drauf: „Falls das Marionettenregime der Verräter [Südkorea] sich direkt an den UN-Sanktionen beteiligt, wird Nordkorea gewaltsame Gegenmassnahmen ergreifen“.
Pjöngjang kündigte zudem eine 1992 mit Südkorea geschlossene Vereinbarung über eine atomwaffenfreie koreanische Halbinsel auf. Nordkorea werde sein Atomprogramm weiterverfolgen, “bis die Denuklearisierung der Welt abgeschlossen sein wird”.
"Unnötige Provokation"
Washington reagierte umgehend, sprach von einer „unnötigen Provokation“ und sagte eine „zunehmende Isolierung Nordkoreas“ voraus. Nachbar China forderte Nordkorea und alle Betroffenen Staaten wie immer zu Besonnenheit und zur Rückkehr zu den Sechs-Parteien-Gesprächen auf. China hoffe, dass sich die "betroffene Partei" auf Schritte verzichte, die die Lage weiter verschlechterten, erklärte das Außenministerium in Peking.
Die neueste Entwicklung zeigt ganz offensichtlich, dass der Einfluss Chinas auf Nordkorea im Westen überschätzt wird. Natürlich erhält Nordkorea von seinem letzten freundschaftlich verbundenen Nachbarn Nahrungsmittel und vor allem Energie. Das freilich nur deshalb, weil Peking Instabilität oder gar einen Kollaps Nordkoreas um jeden Preis verhindern will. Ein Regimewechsel in Pjöngjang hätte nach chinesischer Ansicht unabsehbare Folgen für China, für die Region und die Welt.
Ein dritter Atomtest
Dass Nordkorea in absehbarer Zeit nach 2006 und 2009 einen dritten Atomtest durchführen wird, steht nach einhelliger Meinung von Experten ausser Frage. Viele befürchten, dass Nordkorea diesmal hoch angereichertes Uran einsetzen könnte. Damit könnte Nordkorea seine Plutoniumvorräte schonen, die für zwölf A-Sprengsätze ausreichen würden. Das Testgelände in Punggye an der chinesischen Grenze jedenfalls soll nach Einschätzung von Geheimdiensten bereits voll gerüstet sein. Kim Jong-un muss also nur noch auf den Knopf drücken.
Alles präsentiert sich wie ein Déjà-vu. Der junge Kim Jong-un bewegt sich eindeutig in den Fussstapfen seines Vaters und Grossvaters. Als Nordkoreas Gründervater Kim Il-sung 1994 starb, wurden grosse Hoffnungen auf Sohn Kim Jong-il gesetzt. Ausländischen Experten, Kommentatoren und Diplomaten prognostizierten Öffnung und Wirtschaftswachstum.
Kalte, eiskalte Luft
Was kam, war die grosse Hungersnot in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre verursacht durch eine seit Jahrzehnten verfehlte Agrarpolitik. Das gleiche wiederholt sich jetzt mit dem „Jungen General“ Kim Jong-un. Im Innern Nordkoreas verändert sich wenig: Einige wirtschaftliche Mini-Reformen und eine sanfte technologische Öffnung für die wenigen Hunderttausend Privilegierten (bei einer Bevölkerung von 24 Millionen).
Aussenpolitisch bewegt sich ebenfalls nichts. So hat Nordkorea an den Pekinger Sechser-Gesprächen stets alles versprochen, einiges unterschrieben und wenig bis nichts gehalten. Jetzt geht es einfach ohne Sechser-Gespräche weiter. Im gleichen Fahrwasser. Kalte, eiskalte Luft also.