Am 3. März erinnerte uns Christoph Zollinger hier im Journal 21 an die aktuelle gebliebene Botschaft des Sokrates. Nach diesem antiken Denker bleiben wir in allem Wissen immer unwissend; deshalb sollten wir alle gewohnten Denk- und Handlungssysteme und die persönliche Lebensführung stets und immer wieder hinterfragen. Das erst ermöglicht für Sokrates einen echt gemeinten Dialog und demokratische Gesinnung von selbst- und sozialkritischen Individuen.
Zur gleichen Zeit, um 500 v. u. Z. lehrte in Indien Siddhartha Gautama, später «Buddha» genannt. Seine Botschaft klingt für mich noch aufrüttelnder: Alles Leiden werde aus der Herrschaft von Besitz- und Verteidigungsdenken in uns geboren: aus Habenwollen bis Gier und aus Aversion bis Hass. Alles, was ist, existiere aber einzig aus der Verbundenheit mit anderem, und deshalb sei Mitgefühl – mit uns und allen Wesen – die Grundessenz unseres menschlichen Daseins. Durch ein geistiges Wach- oder Erleuchtet-Werden für diese Zusammenhänge könnten Menschen aus dem Rad von Habenwollen und Aversion austreten und so mitfühlender mich sich und anderen leben. Sehr ähnlich klingt dann 500 Jahre später die ursprüngliche Botschaft des Wanderpredigers Joschua von Nazareth, später «Christus» genannt: Sinnet um! Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Dankbar nehme ich wahr, dass auch in unseren Tagen moderne Sozialkritiker und Sozialkritikerinnen zu Ähnlichem ermutigen und das Mitgefühl ins Zentrum stellen. Dazu gehört für mich der 2015 verstorbene Sozialpsychologen Arno Gruen und der 1951 geborene Gehirnphysiologe Gerald Hüther. 2013 erschien das Buch von Arno Gruen: «Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden». Hier stellt er das Mitgefühl als das «Herzstück» des Menschseins vor. Gerald Hüther wirkt auf mich wie sein innerer Bruder, wenn er in seinem jüngsten Buch von 2018 das Mitgefühl von der menschlichen Würde her betrachtet: «Würde. Was uns stark macht als Einzelne und als Gemeinschaft».
Ich möchte mit Ihnen nur einige wenige Früchte teilen, die mich als Psychotherapeut und Religionsphilosoph im Zusammenhang mit den genannten Autoren und ihren Büchern besonders bewegen.
Menschliche Würde als Mitgefühl mit sich und den anderen
Wir sind, so betonen beide Autoren, zu mitfühlenden, empathischen Wesen gezeugt und geboren. Mitgefühl heisst, den anderen und zugleich mich um unserer selbst willen wahrnehmen und gerne haben. Das Gegenteil davon ist, sich und andere als Objekte für eigene Interessen, Ideen und Programme zu missbrauchen. Mitgefühl für sich und die anderen ist das, was unser Menschsein im Kern ausmacht, und dies spüren wir in dem, was wir unsere Würde nennen. Wenn wir «unter unserer Würde handeln», verraten wir das Mitgefühl als unsere Kern-Kraft. – Beide Autoren verstehen ihre Sicht als eine Kritik an dem Dogma der Biologie des 20 Jh. Dieses Dogma lautete: In der Evolution ist Fressen und Gefressenwerden die zentrale Konstante; und es siegt der Stärkere und Erfolgreiche. Dieses Dogma habe sich durch die neuere Evolutionsforschung als unhaltbar erwiesen; es spiegele letztlich das Interesse der Mächtigen als die «Stärkeren» , nämlich die bestehenden Machtverteilungen zu sichern. Das ist ein Beispiel für das, was Arno Gruen auch die «kalte Vernunft» nennt: Das Einsetzen des Denkens für Macht und Ausbeutung, und eben nicht für das Mitgefühl. Die kalte Vernunft sei allgegenwärtig: in der Medizin, im Bildungswesen, in vielen religiösen Gruppen, in der Politik, der Wirtschaft und eben auch in den Wissenschaften.
Die moderne Evolutionsforschung bedient sich auch der neueren Gehirnforschung, auf die beide Autoren ausführlich eingehen. Ich erwähne nur dreierlei. Erstens: Mit-Leid und Mit-Gefühl sind zwei sehr verschiedene Kräfte und in zwei völlig verschiedenen Gehirnteilen verankert. Von der Tierwelt haben wir wichtige Impulszentren bei Schwierigkeiten aus der Umwelt übernommen. Dazu gehören Verteidigung bei Angriff, Abwehr von Regelwidrigem (Ungerechtem) und schnelle Hilfe bei Not. Leiden soll ausgeschaltet werden, weil es Weiterleben gefährdet. Die Zentren der Mit-Leid-Impulse liegen im Vorderhirn und lösen Erregung und Stress aus; sie spalten zwischen Opfer und Täter/Gefahr. Das typisch menschliche Mitgefühl dagegen meint tiefes Verbundensein mit allem und löst Ruhe im ganzen Körper aus und spaltet nicht zwischen Opfer und Täter. Sein Haupt-Zentrum liegt im unteren Mittelhirn. Wie und wieweit der einzelne Mensch Mitleid und/oder Mitgefühl entwickelt, hängt von ganz vielen anderen Gehirn-Prozessen ab. So – zweitens – vom Miteinander des Zentrums für den Ich-Bezug und dem Zentrum für den Du-Bezug.
Diese Zentren sind prinzipiell verbunden und können deshalb jederzeit in Austausch gebracht werden, was aber von jedem Menschen unterschiedlich stark oder schwach vollzogen wird. Drittens: Die linke Gehirnhälfte ist dem Kalkulieren oder sogenannten «Rationalen» verpflichtet, die rechte dem «Gefühlsmässigen». Grundsätzlich sind linke und rechte Hälfte miteinander zu verbinden; bei diesem Verbinden hat die Gefühlsseite die führende Rolle und schafft so ein Gefühl der Ganzheit. Auch das wird von jedem Menschen unterschiedlich stark oder schwach vollzogen; Frauen gelingt dies mehr als Männern. Insgesamt aktivieren die meisten Europäer viel mehr die rationale Gehirnhälfte und verpassen damit eine ganzheitliche Wahrnehmung, ein Gefühl für das Ganze. Die augenblickliche Welle des Nationalismus ist eines der markanten Symptome dafür.
Subtile Herrschaft der kalten Vernunft als «Normalität»
Mit dem letzten Aspekt komme ich zu dem, wie es tatsächlich in der Welt zugeht. Es ist eine Binsenwahrheit, dass wir Durchschnittsbürgerinnen und -bürger Haben- und Weghabenwollen einerseits und Mitleid und Mitgefühl andererseits ständig mischen. Die beiden Autoren wollen uns wachmachen dafür, dass wir die überall vorhandenen subtilen Formen von Gier, Aggression und kalter Vernunft nicht als normal, d. h. natürlich empfinden. Und sie zeigen zugleich auf, wie wir diese scheint’s normale, aber lebensfeindliche Atmosphäre von Generation zu Generation weitervererben.
Gerald Hüther berichtet, er habe die beiden Dokumentarfilme des österreichischen Filmemachers Erwin Wagenhofer gesehen: «Lets make money» und «We feed the world». Die beeindruckenden wie erschreckenden Bilder hätten ihn intensiver erfahren lassen, was er schon wusste, nämlich, wie es bei den globalen Geschäftemachern im Finanzsystem und bei den grossen weltweiten Konzernen der Lebensmittelbranche zugeht. Aber der eigentliche Schock in den Filmen sei Folgendes gewesen: Die Verantwortlichen, die diese hinterlistigen Finanztransaktionen entwickelt und diese weltmarktbeherrschenden Nahrungsmittelkonzerne aufgebaut haben, hätten an den besten Schulen und den renomiertesten Universitäten mit besten Examina studiert. Damit seien ihm vollends die Augen für das geöffnet worden, was in unseren Bildungseinrichtungen heute geschieht: Das Gefühl für die Würde und Mitgefühl wird in ihnen unterdrückt. Man müsse Glück haben, auf die wenigen Lehrende zu stossen, die selbst ein Gefühl für ihre Würde haben, und es den jüngeren Menschen eröffnen und nicht unterdrücken. Aber warum erschüttern uns solche Phänomene weniger als Mord, Sadismus und Rassismus?
Mord, Sadismus und Rassismus als extremste Formen der kalten Vernunft
Eine erste Antwort lautet: Weil uns bei Mord, Sadismus und Rassismus unleugbar deutlich wird, dass so etwas hautnah Leben gefährdet. Was wir weniger wahrnehmen, sind die inneren Prozesse bei solchen Phänomenen. Arno Gruen hat in einem jahrelangen Projekt für rassistische Straftäter in Deutschland mitgewirkt. Besonders bewegt hat ihn, wie diejenigen Jugendlichen, die den Prozess nicht abbrachen und durchhielten, in der Mitte äussert schmerzhafte, ja unerträgliche Symptome wie bei einem Entzug von schweren Drogen durchmachten. Arno Gruen vergleicht das mit dem Auftauen von erfrorenen oder dem Lösen von verkrampften und verdrehten Gliedern. In der Tat, die ganze Existenz solcher Menschen wirkt von einem gütigen Blick her wie «eingefroren» oder «in sich verdreht»; sie leben in einer beständigen unbewussten Tortur, vergleichbar mit einer Folter, bei der die Glieder verdreht werden (lat. torquere). Und diese unbewusste Qual können sie nur ertragen, indem sie andere hassen und quälen und ermorden.
Das ist die extremste Form der Selbstentfremdung, die Menschen entwickeln, und zwar vor allem deshalb, weil sie als Kinder und Jugendliche unter einer extremen Herrschaft der kalten Vernunft gross wurden. Damit nenne ich eine weitere, aber sehr bittere Binsenwahrheit: Lieblosigkeit, Unmenschlichkeit wird nicht nur durch die Umwelt, sondern ebenso soziopsychologisch von einer Generation in die nächste weiter vererbt. Arno Gruen erwähnt eine Studie, die das schon bei Rhesusaffen belegt: Diejenigen Muttertiere, die in ihrer Jugend durch Menschen und Umwelt schlecht behandelt oder misshandelt wurden, haben dann, als sie selbst Mutter wurden, ihre Babies schlecht versorgt und misshandelt.
Soziopsychologische Vererbung: kalte Vernunft – durch kalte Vernunft erzeugt
Die beiden Autoren zeigen uns, wie diese soziopsychologische Vererbung der Lieblosigkeit und kalten Vernunft im Detail vor sich geht, und zwar mehr oder minder bei uns allen. Nehmen wir aus tausenden von Beispielen nur drei, wie Kinder in der durchschnittlichen Bürgerwelt subtil zu Objekten der Eltern werden. (1) Ein Kind wird gezeugt, ist aber nicht gewünscht; es bekommt immer mal wieder zu spüren, dass es eigentlich stört. (2) Ein Kind wird bewusst gezeugt und gewünscht, weil die Eltern an ihm zeigen wollen, was für gute und tolle Eltern sie sind. (3) Ein Elternteil oder ein Geschwister ist langfristig krank und das Kind muss wie eine erwachsene Person einspringen und die elterliche Rolle für die Erkrankten übernehmen. In diesen und ähnlichen Fällen spürt das Kind unbewusst, dass da etwas nicht stimmt, dass etwas gegen das Mitgefühl geschieht. Schmerz kommt auf, der gelindert werden will.
Als Aussenstehende sehen wir dann folgende Phänomene: Das Kind beginnt, durch Leistung, narzisstische und/oder depressive Gebärden seine Existenz zu rechtfertigen, und es beginnt, auch andere Wesen zu Objekten zu degradieren. Diese Phänomene aber sind die Folgen eines inneren Prozesses, der das Zentrum bildet: Das Kind beginnt sich selbst abzuwerten, denn es muss unbewusst zustimmen, dass es rechtens ist, als Objekt missbraucht zu werden. Damit beginnt die eigentliche Selbstentfremdung als Tortur: Das Kind verdreht sich in sich, denn es tut ja etwas, was seinem tiefsten Wesen, dem Mitgefühl, widerspricht. Und dieses Sich-Verdrehen-Müssen erzeugt eine wachsende unbewusste Selbstverachtung, die sich steigern kann in Selbstekel oder Selbsthass, wie bei Gewalttätern. Es ist die Selbstverachtung, die dann Linderung sucht in oben genannten Phänomenen wie Leistung, Selbsterhöhung, Depression und Abwertung bis Missbrauch von anderen. Die Folge kennen wir: Die kalte Vernunft (mit Haben- und Weg-haben-Wollen) nimmt in den Heranwachsenden zu und das Gefühl für die eigene Würde und das Mitgefühl für sich und andere stumpft ab, auch wenn die Heranwachsenden es bewusst gar nicht wollen.
Die beiden Autoren kommen aufgrund ihrer jahrelangen Forschungen zu folgender Bilanz: Ein Viertel der Europäerinnen sind in der Kindheit und Jugend extrem verletzt worden und setzen ihren dadurch entstandenden Selbsthass auch extrem gegen andere ein. Mehr als die Hälfte der Europäerinnen sind sehr bis etwas weniger verletzt worden und kennen auch Spuren von Würde und Mitgefühl. Sie sind mehr oder minder anfällig für subtile bis offene Ausbeutung oder Schein-Identifikationen. 17 bis 20 % sind kaum verletzt worden und haben genügend Mitgefühl und Würde in der Kindheit und Jugend erlebt und so auch als Basis ihres weiteren Lebens stets präsent.
Die Veränderung der Welt beginnt mit der Selbstveränderung
Beide Autoren zeigen schliesslich auch Wege, wie Menschen guten Willens die unheilsamen Prozesse in der Umwelt und in uns selbst schmälern können. Ich nenne nur vier. Erstens: Es gibt ja 20% der Menschen, die ein gesundes Gefühl für ihre Würde und damit für Mitgefühl haben, und darüber hinaus auch solche, die sich intensiv und bewusst darum bemühen. Aber diese sind mehr die Stillen. Arno Gruen und Gerald Hüther ermutigen sie, sich mehr zu zeigen und dabei öffentlich auch gegen subtile Gier, zerstörende Aggression und kalte Vernunft aufzustehen. Zweitens sei es notwendig (die Not wendend), dass wir uns beim Ringen um mehr Menschlichkeit gerade mit Menschen guten Willens regelmässig austauschen und uns gegenseitig unterstützen. (Nicht zufällig, so füge ich hinzu, hat Siddhartha Gautama die Gemeinschaft als unverzichtbare Kraft für den Weg aus dem Leiden hervorgehoben.) Drittens sei es hilfreich, unsere Leiblichkeit intensiver zu spüren und ruhige, tiefe Freude an sinnlichen Erfahrungen zu entwickeln. Dabei könne auch die mitfühlende Haltung zu allen Naturwesen wachsen. Nur wenn es der Natur gut geht, geht es uns gut. Mitgefühl hat immer das Ganze im Blick. Viertens: Weil wir alle mehr oder minder von Lieblosigkeit und kalter Vernunft leicht bis schwerer verletzt wurden, sollten wir ehrlich das Ausmass und die Folgen der eigenen Verletzungen wahr und ernst nehmen und wacher dafür werden, wo wir selbst insgeheim uns und andere zu Objekten machen. Bei allem gilt: Die Veränderung der Welt beginnt mit der Selbsterkenntnis und Selbstveränderung. Gerald Hüther spricht von den «Autobahnen» im Gehirn. Das sind die von Kindheit an eingefahrenen Lösungswege bei Problemen, also unsere gewohnten Reaktionen, wenn etwas nicht stimmt. Und diese sind oft von der kalten Vernunft geprägt und deshalb weniger heilsam. Er rät uns, die nächste Ausfahrt zu benutzen und unbekannte Nebenstrassen bis Feldwege zu erkunden. Das wirke auf den ersten Blick unbequem bis schmerzhaft, sei aber spannend und bereichernd und bis ins höchste Alter möglich, weil unser Gehirn auch im Alter formbar bleibt. Unser Gehirn lechze nach Veränderungen. Vor allem stärke solche Veränderung das Gefühl für unsere Würde. Bevor wir in Würde sterben wollten, sollten wir doch erstmal mehr in Würde leben.