Proeuropäer haben es heute nicht leicht. EU-Bürger und Schweizer verdammen die EU wegen der Euro-Krise in Grund und Boden. Ein Schwall von Anti-EU-Clichés überschwemmt uns, Demokratiedefizit usw. Proeuropäer werden mitverdammt, mitkritisiert und für naiv, blind oder schwachsinnig erklärt.
Dankbarkeit
Ich bin ein Proeuropäer und nicht blind für die EU-Krise. Aber bevor ich über sie schreibe, will ich klarmachen, dass ich.der EU tief dankbar bin und warum. Das geht weit über die Krise hinaus. Es geht zurück in eine jahrtausendelange Geschichte. Die europäische Geschichte unaufhörlicher Kriege, welche die EU beendet hat.
Die Stämme und Länder Europas haben, solange sie nicht geeinigt waren, jeder Generation Krieg beschert, Landschaften verwüstet, Dörfer und Städte geplündert, Millionen getötet. Elf Jahre lang habe ich noch den letzten Weltkrieg um uns herum erlebt. Der Vater holte Tornister und Gewehr aus dem Estrich, zog die Uniform an und verliess uns, um zu seiner Kompanie zu eilen. Fünf Jahre lang, bis 1945, spürte ich die Angst der Eltern, Hitler werde bei uns einmarschieren. Brot, Mehl, Milch, Fleisch, Eier, Schokolade waren rationiert, pro Woche gab es nur die kärglichen Rationen, die uns der Staat noch bis 1948 monatlich zuteilte. Dazu musste die Mutter auf dem Amt Rationierungsmärklein holen, mit denen dann die Käufe getätigt wurden. Nur graues und zwei Tage altes Brot durften uns die Bäcker verkaufen, weil es mehr nährte als weisses und frisches.
Ein Leben ohne Angst vor Krieg
Und dann kam 1950 die EG. Seither habe ich, seither hat meine Generation, seither haben alle heute lebenden Generationen ein Leben ohne Angst vor Krieg erlebt. Und ohne Rationierung. Zum erstenmal seit Menschengedenken. Das verdanken wir der EU.
Das verdanken ihr auch die notorischen EU-Kritiker. Sie vergessen, dass sie die EU heute in aller Ruhe und Freiheit kritisieren können, ohne Angst vor Zensur, Unterdrückung und Krieg. Das verdanken sie dieser selben EU, ihrer mit dem Nobelpreis gekrönten Friedensleistung.
Der EU? Ja. In sechzig Jahren haben die früher chronisch verfeindeten Staaten vertrauensvoll und gleichberechtigt eine Friedensgemeinschaft aufgebaut. Sechzig Jahre lang haben ihre Regierungen, Minister, Länder, Parteien, Parlamentarier, Lobbies und Bürger einander so kennen und vertrauen gelernt, dass sie keinen Moment mehr an Krieg denken. Sie haben, während sie in tausenden von Sitzungen und Begegnungen hart um Kompromisse feilschten, auch miteinander Kaffee getrunken und Witze ausgetauscht. Das hat sie zu einer Vertrauensgemeinschaft zusammengeschweisst, wie sie Europa noch nie gekannt hat. Europa und wir Schweizer verdanken diesen historisch einmaligen Frieden der EU.
Die Krise
Das wischt die Krise nicht weg, in der sie heute steckt: die grösste Krise ihrer Geschichte, welche schon viele Krisen zählt, aber keine so unheimliche wie die heutige. Diese Krise kann den Frieden beenden, und daran wäre dieselbe EU schuld, die ihn geschaffen hat.
Diese Krise haben sie der dilettantischen Planung einer Währungsunion im Maastricht-Vertrag von 1993 zu danken. Daraus folgen Zerreissproben unter ihren Völkern, die man in Europa nicht mehr für möglich gehalten hat. Ein wirres Knäuel sich überschneidender Spannungen macht sie explosiv und ihren Ausgang unberechenbar. Sie muss nicht zum Ende der EU führen. Aber sie kann.
Der Euro als Gleichmacher
Die EU hat diese Krise nicht gewollt, sie ist in sie hineingestolpert. Die Idee einer gemeinsamen Währung im EU-Raum hat ihre Meriten, aber eben auch gravierende Scgwächen, dargestellt in “Die fünf Geburtsfehler des Euro“ (6.Juni 2012). Der Hauptgeburtsfehler war, dass die Experten, welche diese gemeinsame Währung konzipierten, ausschliesslich ihren monetären Theorien und Regeln folgten und den Euro wie eine Uniform über Dicke und Magere stülpten. Sie waren blind für die wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Unebenheiten zwischen den EG-Ländern, die jetzt zu gewaltigen Verzerrungen und Verwerfungen führen, weil das Prestige des billigen Euro jedem Land erlaubte, seine Phantasien auszuleben, welche das ganze Geflecht bis zum Zerreissen stressen.
Ausgelöst wurden diese Kalamitäten zwar, als sich die amerikanische Immobilienblase 2008 zu einer weltweiten Banken- und Finanzkrise ausweitete, welche dann auch die europäischen Länder und Banken ansteckte. Aber heute ist klar: Die immanenten Schwächen der Euro-Konstruktion wären früher oder später so oder so ausgebrochen.
Eine gefährliche Kettenreaktion
Die Einheitswährung, welche verschiedenste Länder in dieses Korsett zwang, hat in ihren öffentlichen Meinungen eine das Ganze gefährdende Kettenreaktion provoziert. Die gesellschaftlich-politischen Folgen liegen auf der Hand. Wutbürger geben spontanen Bewegungen und faschistoiden Parteien, die in den Zorn über die eigenen Politiker auch gleich die EU mitnehmen, grosse Wahlerfolge in Italien, Griechenland, Spanien, England, Deutschland, Holland. In Ungarn schlägt die Frustration um in Antisemitismus und Zigeunerhass. Selbst Präsident Hollande lässt die Zigeuner vertreiben und nach Rumänien abschieben. Die Versuchung wächst, den Zigeunern die Schengen-Freizügigkeit einzuschränken, auf die sie als bulgarische und rumänische Staatsbürger ab 2014 ein Recht haben sollen. Die EU würde, bisher undenkbar, eine rassistisch definierte Gruppe ihrer Bürger diskriminieren.
Griechen projizieren ihre Wut über die Austerity auf afrikanische Flüchtlinge und schlagen ihre Marktstände zusammen. Den Hilferufen der Griechen, Malteser und Italiener, einen Teil der ihnen übers Mittelmeer zugeströmten Million Flüchtlinge abzunehmen, antwortet bei den nördlichen EU-Partnern ein eisiges Schweigen, das jedem Gefühl für europäische Solidarität spottet. Längst überwunden geglaubte Vorurteile steigen aus den Völkern auf: „Diese Nazi-Deutschen, die uns die Austerity aufzwingen“, „Merkel = Hitler“, und andersherum „Diese liederlichen Griechen, Zyprioten (Italiener, Spanier usw.), denen wir mit unseren schwerverdienten Milliarden helfen sollen“ usw.
Und nirgends ein bisschen Mut
Das alles ist hochgradig beunruhigend. Es rührt an die Wurzeln der Gemeinschaft, an die Werte und Überzeugungen, die für ihren friedlichen Zusammenhalt unerlässlich sind und sechzig Jahre lang unantastbar waren. Der Zusammenhang scheint sich nicht nur zu lockern, man könnte den Eindruck bekommen, er sei im Begriff zu zerfleddern. So weit ist es noch nicht. Aber die Reaktion der verantwortlichen EU-Politiker ist im Moment entnervend schwach. Nirgends eine Spur des alten Geistes europäischer Einigung, der sie alle früheren Krisen in Hoffen und Bangen und jahrelangem Quälen überwinden liess. Nirgends etwas Mut zu europäischen Visionen und zur Überwindung nationaler Scheuklappen.
Hier liegt die Sorge von uns Proeuopäern. Wir glauben immer noch an den unschätzbaren Wert europäischer Einigung. Wir hoffen, dass die EU-Länder den alten Schwung und die Entscheidungskraft wiederfinden, um aus der Misere herauszukommen. Nicht weil wir unbelehrbare Proeuropäer sind. Sondern, weil wir hoffen, dass Europas Frieden auch in Zukunft gesichert sei. Weil wir fürchten, dass Europa wieder reif zum Krieg wird, wenn die EU auseinanderfällt.