Ich stiess darin auf die die folgenden Sätze: „Die Idee ist ein Schach, das man der Wahrheit bietet. Wer Ideen haben will, muss zuerst die Wahrheit wollen und sich die Spielregeln aneignen, die sie auferlegt. Es geht nicht an, von Ideen oder Meinungen zu reden, wenn man keine Instanz anerkennt, welche über sie zu Gericht sitzt.“
Konservatismus der Wahrheit
Ortegas Pamphlet richtete sich gegen Massenphänomene seiner Zeit, im Besonderen gegen die Regellosigkeit: den Moralverfall der Meinungsäusserung. Schauen und hören wir heute um uns, so konstatieren wir ein ähnliches Phänomen. Und dagegen hilft, so meine These, nur der Rigorismus einer bestimmten Denkhaltung: der Konservatismus der Wahrheit.
Wer heute die Wahrheit anruft, gerät schnell in ein Kreuzfeuer von Einwänden. Deren Tenor: Spiel dich nicht so auf, du Tugendbold der Wahrheit! Wer bist du denn, mit deinem Anspruch auf einen exklusiven Weltblick? Philosophisch gehobener klingt das etwa so: Wahrheit ist kein erkenntnistheoretisches Privileg. Es gibt eine Vielfalt von Wahrheiten, je nach partikularer Perspektive, die man einnimmt. Und korrespondierend dazu gibt es nicht die Wirklichkeit, sondern eine Pluralität von partikularen Wirklichkeiten. So die These. Sie kann sowohl anspruchsvolle Studien wie auch Trivialitäten und fruchtlose Debatten produzieren. Darauf lasse ich mich hier nicht ein. Dagegen erscheinen mir ein paar Erläuterungen zur These, Wahrheit sei konservativ, angezeigter denn je.
Wahrheit kennt keine „Alternative“
Konservatismus der Wahrheit bedeutet vorab: Es gibt keine „alternativen“ Wahrheiten, es gibt ein eindeutiges Kriterium, was als wahr zu gelten hat. Und es ist höchst trivial. Ausser Lügnern, Bullshittern oder Geistesgestörten kennt es jeder aus dem Effeff: Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn der Fall ist, was sie behauptet. „Heute ist Dienstag“ ist wahr, wenn heute Dienstag ist. Das klingt fast tautologisch, eignet sich aber gut, Begriffsverwirrungen zu beheben. Eine liegt vor in der Verwechslung von Wahrheitskriterium und Wahrheits-Check. Der Check, dass wir heute Dienstag haben, ist jedem ziemlich schnell einsichtig. Aber es gibt eine Vielfalt von Aussageformen, und entsprechend vielfältig sind die Checks für das Wahrheitskriterium. Die Behauptung „Hydroxychloroquin wirkt gegen Covid-19“ ist genau dann wahr, wenn Hydroxychloroquin gegen Covid-19 wirkt. Na ja, klar. Aber unter welchen Bedingungen ist das der Fall? Wenn das BAG ein einschlägiges Communiqué herausgibt? Wenn ein abgedrehter US-Präsident das in die Welt twittert? Wenn ein Team von Virologen Evidenz vorlegt; und welches Team, von welcher Institution? Hier beginnt unter Umständen eine sehr vertrackte Check-Geschichte. Aber ein einziges eindeutiges Wahrheitskriterium widerspricht nicht der Vielfalt von Wahrheits-Checks.
Ist die Wirklichkeit zu komplex?
In diesem Zusammenhang hört man häufig das Argument, die Wirklichkeit sei zu komplex für ein binäres Wahr-Falsch-Raster. Jede Aussage hänge ab von kontingenten Bedingungen. Und da man, falls man nicht gerade der Hegelsche Weltgeist ist, nie alle Bedingungen kenne, sei auch Wahrheit bloss eine „bedingte“ Wahrheit. Wiederum eine Konfusion. „Diese Aussage ist Teil der Wahrheit“ bedeutet nicht „Diese Aussage ist eine Teilwahrheit“. Nochmals: Der Satz „Heute ist Dienstag“ gilt als wahr genau dann, wenn heute Dienstag ist. Punkt. Natürlich trifft das nicht die „ganze“ Wirklichkeit. Heute ist etwa auch der 84. Geburtstag von Mani Matter selig, der Tag, an dem vor 25 Jahren kroatische Soldaten serbische Einheiten aus Kroatien vertrieben, der Tag, an dem die Erde einen bestimmten Abstand zur Sonne hat, und und und ... Dass die Reihe beliebig fortsetzbar ist, macht den Satz „Heute ist Dienstag“ nicht zu einer Teilwahrheit. Im Übrigen würde so jegliches historische Forschen hintertrieben, denn jede Beschreibung eines vergangenen Ereignisses ist selektiv. Was keineswegs impliziert, dass historische Beschreibungen notwendig teilwahr oder falsch sind.
Realismus
Konservatismus der Wahrheit bedeutet Realismus, jedoch nicht im Sinne von „So ist es immer gewesen, also ist es der Fall“. Eine Zeitlang galt es in bestimmten philosophischen Kreisen als hip, alles, was der Fall ist, als „konstruiert“ zu entlarven, und dieser Anti-Realismus brachte frischen Wind in die Debatte. Inzwischen verpestet er das Twitterversum, wo sich jeder die Realität „konstruiert“, die ihm gerade in den Kram passt. Realismus meint genau das Gegenteil: Die Wirklichkeit passt sich nicht uns an, wir passen uns ihr an. Realismus bezeichnet die simple Einsicht, dass etwas so ist, wie es ist – unabhängig davon, ob du und ich der Meinung sind, es sei so oder auch nicht so. Auf die Behauptung, Fakten seien menschengemacht, antworte ich: Schenk mir keinen kalten Kaffee ein. Sag mir: Wie sind sie gemacht? Gerade in der Zeit des Coronavirus ist es schon fast überlebensnotwendig, auf die solide Architektur etwa von epidemiologischen Fakten zu bauen.
Weiss die Wissenschaft die Wahrheit?
Das heisst, oft fragen wir die Wissenschaft. Nicht immer allerdings. Konservatismus der Wahrheit bedeutet eine Absage an den Szientismus, die Auffassung, allein die Wissenschaft teile uns mit, was „wirklich“ der Fall ist. Auch hier gilt es ein Missverständnis zu vermeiden. Wenn wir von wissenschaftlicher Wahrheit sprechen, meinen wir eine spezielle Vorgehensweise, Fragen zu beantworten, nämlich eine theoriegeleitete, evidenzgestützte, methodologisch reflektierte, von einem Expertenkollektiv getragene. Forschung sucht nicht nach „der“ Wahrheit. Forschung bedeutet, Irrtümer und Fehler zu beseitigen. Und sie tut dies äusserst erfolgreich. Viele, wenn nicht sogar alle wichtigen Fragen, bleiben in ihr jedoch unbeantwortet. In den modernen Neurowissenschaften herrscht zum Beispiel der Trend, alles Tun des Menschen auf der Basis von Hirnvorgängen zu erklären. So spricht man indes nicht im Namen der Wissenschaft, sondern aus szientistischer Verblendung.
Intellektuelle Integrität
Richard Rorty, der amerikanische Vordenker der Postmoderne, verglich einmal die Frage „Glaubst du an die Wahrheit?“ mit der Frage „Glaubst du an Gott?“. Damit insinuierte er, dass Wahrheitsliebe im Grunde obsolet sei, ein Aberglaube. Und so sah sich die notwendige Prädisposition zur Wahrheit verunglimpft: intellektuelle Integrität. Ein koketter Desillusionismus fordert sie heute heraus, der alles Streben nach Objektivität unter den Generalverdacht von „Interessegeleitetheit“, „kultureller Voreingenommenheit“, „Gender-Bias“ und was auch immer stellt.
Und dennoch: Subtrahiert man von ihm das Überkandidelte, hat Rortys Vergleich einiges für sich – sofern man ihn konservativ deutet. Wir brauchen Ortegas „Instanz“, die über unsere Aussagen zu Gericht sitzt, nicht eine „göttliche“, aber doch eine, die sich von partikularen Perspektiven löst. Solches Loslösen orientiert sich an einem Ideal der objektiven Wahrheit, dem man sich annähern kann, ohne es je zu erreichen. Leute, welche eine solche epistemische Autorität zurückweisen, haben keine Meinungen, sie sondern einfach Meinungen ab wie Speichel. Und andere, die diesen Speichel unkritisch resorbieren, sind folgedessen ...
Das „schlechte“ Apriori der Halunkenmentalität
Der Wille zur Wahrheit ist konservativ. Und was bewahren wir? Ganz einfach, Vertrauen in den anderen: ein Wohlwollen, das ihm nicht a priori täuschenden Vorsatz, feindliche Haltung, üble Absichten oder Irrationalität unterstellt. Dieses „schlechte“ Apriori infiziert heute als Halunkenmentalität weite Teile gesellschaftlichen Lebens, im viral um sich greifenden Empörungs-, Verdächtigungs-, Beschuldigungs- und Bedrohungsdiskurs. Ein anderer amerikanischer Philosoph, Donald Davidson, hat denn auch von einem Prinzip des Wohlwollens („charity“) gesprochen, das die soziale Kohäsion für einen wirklichkeits-gewährenden Konsens stiftet. Wir haben dieses Prinzip bitter nötig, fürwahr.