Man könnte meinen, die Frage sei einfach zu lösen. In Syrien herrscht ein Bürgerkrieg, also gibt es zwei Kräfte, die sich darum streiten, wer Syrien zu Recht vertrete: die bisherige Regierung unter Baschar al-Asad mit ihrer Armee und ihren Geheimdiensten oder die «Rebellen, die sich zu einer Opposition zusammengeschlossen haben und der Ansicht sind, sie verträten das syrische Volk.
Doch die Sache ist keineswegs einfach, weil es eine byzantinische Verwirrung darüber gibt, wer diese Rebellen vertritt, das heisst, wer legitim im Namen von ihnen allen sprechen und handeln kann.
Die Kämpfer und die Exilpolitiker
Es gibt zunächst einmal eine Scheidung von Kämpfern im Inneren mit ihren im Lande verbleibenden Sympathisanten und Exilierten sowie Flüchtlingen ausserhalb Syriens. Die Kämpfer im Inneren sind versprengt in Hunderte von kleineren und grösseren Kampfgruppen, die ihre Aktionen nur teilweise koordinieren. Man kann sie aufteilen in islamistisch orientierte Kampfgruppen, die einen islamischen Staat Syrien als das Ziel ihres Einsatzes sehen, und in solche, die primär den Sturz des Asad-Regimes und ein künftiges demokratisches Regime in Syrien anstreben.
In der Praxis sind jedoch die Grenzen zwischen den beiden Zielsetzungen schwankend. Vielen der Kämpfer geht es darum, zunächst einmal das Regime Asads zu Fall zu bringen. Was später kommt, ein islamisches Syrien, eine islamische Demokratie in Syrien oder einfach ein demokratisches Syrien, wird vielleicht heute schon theoretisch diskutiert, bleibt aber zunächst einmal für viele sekundär – ausser für Minoritäten, die sich ganz einer der beiden extremen Zielsetzungen verschrieben haben.
Politiker mit Vertretungsanspruch
Noch viel komplexer wird es jedoch im Ausland unter den Exilpolitikern Syriens, die beanspruchen, ihr Land gegenüber den Aussenmächten zu vertreten, welche dem syrischen Aufstand helfen wollen und die sich «die Freunde Syriens» nennen. Schon bald nachdem vor zwei Jahren die Aufstandsbewegung in Syrien entstand, haben sich syrische Exilpolitiker zu einem Syrischen Nationalen Rat (engl. abgekürzt SNC) zusammengefunden und versucht, als eine Art von Auslandsvertretung der syrischen Rebellion zu wirken. Dieser SNC besteht aus sieben verschiedenen Gruppen, deren sechste Kurden sind und deren siebte die Gruppe der «Unabhängigen» bildet. Als die stärkste der sieben Gruppengelten die syrischen Muslimbrüder.
Verlorene Hoffnung auf Militärhilfe
Mit Blick darauf, was in Libyen geschehen war, warben die Exilpolitiker des SNC für eine beschränkte Intervention der westlichen Staaten, möglicherweise in der Form einer von ihnen geschützten «Befreiten Zone» an den syrischen Grenzen. Begreiflicherweise waren solche Hoffnungen anfänglich populär beim Widerstand innerhalb und ausserhalb Syriens. Doch sie erwiesen sich als eine Enttäuschung. Die westlichen Staaten waren nicht bereit, das Veto Russlands gegen ein derartiges Unternehmen zu ignorieren und sich auf eigene Faust zu entschliessen, mit kriegerischen Mitteln einzugreifen. Das Prestige des SNC litt unter diesem Fehlschlag und auch unter dem Umstand, dass innerhalb des Rates heftige Meinungsunterschiede und persönliche Rivalitäten bestanden, die kaum übertüncht werden konnten.
Es gab ständige Richtungskämpfe innerhalb des SNC. Beobachter, die sie genau verfolgten, meldeten, dass es meistens die Muslimbrüder und ihre Freunde seien, welche in diesen inneren Kämpfen dank ihrer Disziplin und ihrem taktischem Geschick obsiegten.
Der NCC zuerst in Damaskus
Neben dem SNC gibt es den NCC (englische Abkürzung für «Nationaler Konsultativrat»). Dies ist ein Zusammenschluss von 13 meist linksgerichteten syrischen Parteien; drei davon sind Parteien der kurdischen Minderheit. Diese Parteien waren sämtlich vom syrischen Staat unter Asad Vater und Sohn verboten und verfolgt worden. Die meisten ihrer führenden Mitglieder haben lange Gefängnisjahre hinter sich. Sie kamen jedoch früher oder später frei, und sie konnten in den Monaten nach dem Beginn der Anti-Regierungsdemonstrationen zusammentreten, in Damaskus einen Kongress durchführen und sich dort als Nationaler Konsultativrat konstituieren. Das Regime duldete dies, wohl weil es darauf ausging, sie als «zahme Opponenten» den Kämpfern und den Exilpolitikern im Ausland entgegenzustellen.
«Reden mit dem Regime»
Das Regime bot ihnen auch an, in Verhandlungen über die Zukunft Syriens einzutreten. Doch dies lehnte der Konsultativrat ab, weil er nicht genügend Sicherheit dafür erhielt, dass den Beratungen mit dem Regime auch Taten folgen würden.
Solange er in Damaskus tagte, lehnte der Konsultativrat alle Gewaltmassnahmen gegen das Regime ab. Seine Mitglieder waren der Ansicht, ein Übergang zu einem Post-Asad-Regime müsse friedlich ausgehandelt und durchgeführt werden.
«Das Regime stürzen»
Im Gegensatz zur Position des NCC war der SNC (der Syrische Nationale Rat) immer der Ansicht, zuerst müsse Asad zurücktreten, und dann erst könne eine Nationalversammlung der Syrer vorbereitet und durchgeführt werden, die über die weiteren Geschicke des Landes bestimme.
Die lange Dauer der Kämpfe und die teilweise erreichte «Befreiung» von einzelnen, meist grenznahen Zonen Syriens bewirkte, dass einige der Führer des NCC aus Syrien flohen und sich ebenfalls im Ausland, meist in der Türkei, niederliessen. Dadurch kam über die Jahre auch eine Vertretung des NCC im Ausland zustande. Heute pochen die Politiker des NCC darauf, dass sie sowohl innerhalb Syriens wie auch im Ausland vertreten seien. Von beiden Standorten aus verfolgen sie weiter ihr Ziel von Verhandlungen mit dem Regime, um es möglichst ohne Bürgerkrieg oder mit möglichst wenig zerstörerischem Bürgerkrieg zum Übergang zu einer Demokratie zu bewegen.
Eine Grosse Koalition
Der SNC hingegen beharrt auf seinem Standpunkt: zuerst Sturz des Regimes, dann ein politischer und demokratischer Neubeginn. Die Kämpfer im Inneren Syriens teilen im allgemeinen den Standpunkt des SNC: «Asad muss weg», dann kann man weiter sehen.
Im vergangenen März schlossen sich unter energischem Druck des Auslandes – besonders der USA, Qatars und Saudi Arabiens – die beiden Hauptblöcke SNC und NCC, ergänzt durch einige Nebengruppen, zu einer weiten Koalition zusammen, die den umständlichen Namen einer «Nationalen Koalition der syrischen revolutionären und oppositionellen Kräfte» erhielt.
Die Stimmen aus dem Inneren
Vertretungen der innerhalb der befreiten Gebiete Syriens entstandenen Revolutionsräte wurden in die Koalition aufgenommen. Diese Revolutionsräte versuchen, die Angelegenheiten der permanent oder vorübergehend befreiten Gebiete und Ortschaften zu regeln, in denen die Revolutionäre das Sagen haben. Sie haben ihrerseits eine Dachorganisation der Revolutionsräte gebildet, der sich die «Generalkommission der syrischen Revolution» nennt. Diese Generalkommission, eine Instanz des Inneren Syriens, ist ausserdem in der Koalition vertreten, die im Ausland wirkt und normalerweise in Istanbul tagt.
«Freie Syrische Armee» ohne politische Bindung?
Wie weit die militärischen Strukturen der Kämpfer der Koalition unterstellt sind, ist zum mindestens unklar. Die Oberkommandanten der Kämpfer, die von der türkischen Grenze aus wirken, haben mehrmals gewechselt, ohne dass klar wurde, wer sie ein- oder abgesetzt hatte. Einige Mal haben solche Oberkommandanten Beschlüsse der zivilen Räte, die ihnen nicht passten, offen abgelehnt. Dennoch sieht die Koalition es als eine ihrer Hauptaufgaben an, die «Freie syrische Armee» (FSA) zu stützen, die bemüht ist, den Kampf im Inneren Syriens zu koordinieren und zu leiten.
Wobei allerdings die islamistischen Kräfte ihre eigenen Kampfgruppen bilden und sich der FSA nicht unterordnen. Bisher haben sich gerade die islamistischen Gruppen als die bestgeführten, die bestbewaffneten, die bestfinanzierten und die erfolgreichsten in den Kämpfen erwiesen. Sie scheinen auch am wirksamsten zu versuchen, die Bevölkerungsüberreste in den «befreiten» Gebieten, die vor den Bombardierungen durch die Regierungsarmee nicht oder noch nicht geflohen sind, zu unterstützen und zu verwalten.
Zwei rivalisierende Hauptgruppen
Die Koalition, die so etwas wie eine Auslandsvertretung der syrischen Revolution bildet, besteht aus den beiden Hauptkomponenten des SNC und des NCC mit zugewandten Elementen aus weiteren Gruppen und aus Vertretern des Inneren. Die Auseinandersetzungen innerhalb der Koalition spielen sich meist in geschlossenen Sitzungen ab. Doch sie sind heftig genug, dass Beobachter, die mit den Ratsmitgliedern Kontakt halten, sich ein ungefähres Bild der inneren Spannungen zurechtlegen können.
Gesucht: eine Exekutive
Die äusseren Mächte der «Freunde Syriens», die entscheidend zur Bildung der Koalition beigetragen haben, betonten seit langer Zeit, sie benötigten eine Exekutive in der Form einer provisorischen Regierung der befreiten Teile Syriens. Ihnen geht es darum, eine verantwortliche Instanz zu finden, welche die von aussen zufliessende Hilfe (offiziell bloss «nicht tödliche» militärische Rüstungsgegenstände, jedoch heimlich und inoffiziell auch Waffen, die über Ankara, Mersin und und andere türkische Flugplätze eingeflogen werden) zu verteilen, zu überwachen und zu garantieren, dass sie nicht in die «falschen» Hände gerate.
Nicht in die falschen Hände
Als falsche Hände gelten jene, die sich selbst als Angehörige der Qaeda erklären. Unter ihnen ist die «Nusra Front» die bekannteste Gruppierung. Die USA, aber nicht die anderen syrischen Kampfgruppen, haben die Nusra Front als eine terroristische Organisation eingestuft.
Jene Bevölkerungsteile, die in von Widerstandskräften besetzten und eingenommenen Gebieten überleben, müssen unterstützt und – so gut es geht – regiert werden. Derartige zunehmend notwendige Aufgaben müsste ebenfalls eine syrische Exekutive übernehmen.
Der SNC hat lange Zeit gezögert, eine derartige Regierung zu bilden. Er scheint nach Annahme der Beobachter gefürchtet zu haben, dass sie, wenn sie zu regieren beginnen würde, ihn selbst in den Schatten stellte. Es besteht eine innere Regelung, nach welcher die Mitglieder des Rates nicht selbst Mitglieder einer - künftig zu bildenden – Regierung werden könnten. Führende Ratsmitglieder versuchten, diese Regelung abzuschaffen. Was ihnen dann erlaubt hätte, selbst in die vorgesehene Regierung einzutreten. Doch die Mehrheit der Ratsmitglieder erhoben sich gegen diese Änderung, und dadurch blieb die Regel bestehen.
Für ganz Syrien oder für die befreiten Gebiete?
Es kam zu einer heissen Diskussion, ob die geplante und von den Aussenmächten geforderte Regierung eine «Übergangsregierung» oder eine «provisorische Regierung» werden solle. Unter Übergangsregierung wird eine solche verstanden, die künftig ganz Syrien regieren soll und den Übergang zu einem demokratischen Regime durchzuführen hat. Eine provisorische hätte nur die zunächst befreiten Zonen und Enklaven in Syrien zu regieren und zu verwalten, in denen die Oppositionskämpfer die Überhand errungen haben. Der SNC strebte eine provisorische Regierung an, der NCC eine Übergangsregierung, von der er nicht ausschliessen wollte, dass sie künftig vielleicht auf Grund von Verhandlungen mit einem in die Enge getriebenen Asad-Regime zustande kommen könnte.
Syriens Sitz in der Liga
Als jedoch deutlich wurde, dass Aussicht bestand, dass die syrischen Oppositionskräfte auf der Gipfelversammlung der Arabischen Liga in Qatar den Sitz Syriens in der Arabischen Liga einnehmen könnten (das Regime Asads war seit geraumer Zeit aus der Liga ausgeschlossen worden), änderte dies die bisherigen Positionen der syrischen Exilpolitiker. Der SNC änderte seine Position und strebte nun die Bildung einer Übergangsregierung an. Um den Sitz in der Liga einnehmen zu können, brauchte man einen Ministerpräsidenten. Als solcher wurde in Eile der Syro-Amerikaner Ghassan Hitto gewählt, der seit dreissig Jahren in Texas gelebt hatte.
Den Feinden der syrischen Opposition, allen voran dem einflussreichen Hizbullah-Fernsehsender «al-Manar» in Beirut, war es ein leichtes, Hitto als den «Mann der CIA» darzustellen. Der Sender erklärte seinen pro-syrischen Zuhörern, ein amerikanischer Senator habe gesagt, Hitto sei noch die beste Null unter den syrischen Nullen, und «wir kennen ihn immerhin schon seit dreissig Jahren».
Der Präsident der Koalition, der nicht dem SNC angehörige Geistliche Moaz al-Khatib, drohte mit seinem Rücktritt. Doch er wurde veranlasst, sein Amt weiterzuführen. Sein Rücktritt hätte verhindert, dass die Opposition als «Syrien» in die Liga aufgenommen worden wäre.
Eine Abstimmung in der Koalition
Die Beratung über die Einsetzung eines Ministerpräsidenten im Koalitionsrat dauerte 14 Stunden hinter verschlossenen Türen. An Ende kam es zu einer Abstimmung. Sie ergab 35 Stimmen gegen und 45 für die Ernennung Hittos zum Vorsitzenden einer Übergangsregierung. Doch vor der Abstimmung hatte eine Anzahl von Ratsmitgliedern die Sitzung verlassen. Es sollen 22 Mitglieder gewesen sein. Falls die Zahl zutrifft, hätte man damit zu rechnen, dass der Koalitionsrat ziemlich gleichmässig gespalten ist in Befürworter des SNC, die 45 Ja-Stimmen, und in Gegner mit total 57 Stimmen der Ablehnenden und der nicht Teilnehmenden.
Al-Khatib für Verhandlungen
Nach seiner Wahl zum Chef der neuen Übergangsregierung versprach Hitto, er werde keine Verhandlungen mit Asad führen, was der Linie des SNC entspricht. Der Vorsitzende der Koalition, Moaz al-Khatib hatte zuvor im vergangenen Januar angedeutet, dass er an Verhandlungen mit Asad denken könne. Voraussetzung wäre allerdings ein wirklicher Waffenstillstand und die Befreiung von 160’000 Gefangenen aus den Verliesen der syrischen Sicherheit. Al-Khatibs Vorschläge waren jedoch auf heftigen Widerstand gestossen. Er kam von Seiten der Kämpfer innerhalb Syriens wie von jener der SNC-Exilpolitiker. Die NCC-Politiker stimmten ihm zu. Präsident Moaz al-Khatib sah sich schliesslich gezwungen zu erklären, sein Vorschlag sei bloss eine persönliche Initiative gewesen.
Schwere Aufgaben für Hitto
Ghassan Hitto, der neue Ministerpräsident, ist sogar den syrischen Exilpolitikern weitgehend unbekannt. Sie wissen von ihm einzig, dass sein Sohn aus Amerika kam, um sich den Kämpfern in Syrien anzuschliessen. Er soll nun eine Regierung bilden, die sich um die Belange der syrischen Flüchtlinge und der Bevölkerung kümmert, die in den vom Widerstand beherrschten Enklaven leben. Seine Regierung soll zukünftig vom syrischen Territorium aus regieren. Doch dies wird schwer zu bewerkstelligen sein, weil die offizielle Armee des Asad-Regimes jene Gebiete, in denen die Kämpfer sich festzusetzen versuchen, regelmässig unter Artilleriebeschuss nimmt, oder sie mit der Luftwaffe bombardiert und zerstört.
Amerika greift über Jordanien ein
Inzwischen wurde bekannt, dass amerikanische Ausbilder in Jordanien syrische Kämpfer ausbilden und trainieren. Baschar al-Asad hat soeben die jordanische Regierung scharf dafür angegriffen, dass sie dies zulasse. Er klagte auch zum ersten Mal offen die Türkei und Jordanien an, sie beherbergten «Terroristen» auf ihrem Territorium und setzten sie gegen Syrien ein.
Überforderte Hilfswerke
Gleichzeitig gab eine Sprecherin von Unicef in Jordanien bekannt, den internationalen Hilfsorganisationen gehe das Geld aus, sie stünden vor der Notwendigkeit, im kommenden Juni ihre Lieferungen, zum Beispiel an Trinkwasser, an die riesigen Lager in der Wüste gleich jenseits der jordanischen Grenzen einzuschränken und andere lebenswichtige Hilfeleistungen abzubauen.
Im Lager von Zaatari an der jordanischen Grenze leben zur Zeit 150’000 Menschen. Die meisten sind Frauen und Kinder. Jordanien hat bisher 380’500 Flüchtlinge aufgenommen. Seit Jahresanfang sind täglich über 2000 Personen über die jordanische Grenze eingeströmt. Die Hilfswerke rechnen damit, dass ihre Zahl bei Jahresende 1,2 Millionen Menschen betragen könnte. Bisher habe Unicef nur 12 Millionen Dollar für die jordanischen Lager erhalten. Der notwendige Betrag würde sich auf 53 Millionen belaufen.
Immer mehr Opfer
Der Flüchtlingskommissar der Uno stimmte ein. Er erklärte, die Flüchtlingslage rund um Syrien herum drohe die Hilfswerke zu übermannen. Dies sei jene Art von Katastrophe, der die Hilfswerke schlussendlich hilflos gegenüberstünden.
Andere Statistiken besagen, dass der vergangene März der bisher blutigste Monat des syrischen Bürgerkrieges gewesen sei. Über 6000 Personen hätten im vergangenen Monat ihr Leben verloren.