Mit dem Lesen steht es bei den Jugendlichen nicht zum Besten. «Ein Drittel kann kurz vor dem Schulabschluss nicht richtig lesen und schreiben», verkündete ein Medienbericht vor Kurzem. Er liess aufhorchen. Lesestudien verraten die Hintergründe.
Deutschland zeigt sich schockiert: Erneut bestätigt eine Studie, dass viele Primarschülerinnen und Primarschüler nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können. Seit Jahren verschlechtert sich das Können in den Kulturtechniken, und zwar erheblich. Jeder vierte Viertklässler liest nicht gut genug. Er kann einem Text nicht einmal elementare Informationen entnehmen, geschweige denn Zusammenhänge erfassen und interpretieren. Das zeigt die sogenannte IGLU-Studie, die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung 2021.[1] Das Ergebnis wurde in diesen Tagen präsentiert; es sei «alarmierend», heisst es aus dem Berliner Bildungsministerium.[2] Der niederschmetternde Befund bleibt nicht ohne Folgen für den weiteren Lern- und Lebensweg dieser Kinder. Den deutschen Grundschulen gelingt es nicht, den Kindern eine solide Grundlage zu vermitteln, dies ausgerechnet beim Lesen. Und Lesen ist die Schlüsselkompetenz für jede Selbstbildung – und für die gesellschaftliche Willensbildung, wie sie vor allem in Demokratien vorausgesetzt wird.
Schweiz liegt deutlich hinter Deutschland
Die Schweiz nimmt an den IGLU-Vergleichen unter 65 Staaten und Regionen nicht teil. Ein Vergleich ist darum nur indirekt möglich. Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag unser Land beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelte damit unter dem OECD-Durchschnitt und klar hinter unserem nördlichen Nachbarn Deutschland. An der Spitze liegen bei beiden Studien die Schülerinnen und Schüler aus Singapur.
Und noch etwas fällt auf: Der Leistungsabfall in Deutschland geht einher mit einer deutlichen Zunahme der Leistungsstreuung. Zwischen den einzelnen Schülern gibt es enorme Unterschiede: Die einen lesen in der vierten Klasse bereits fliessend, andere können die Buchstaben nur stockend entziffern und ihnen kaum Sinn entnehmen; sie bleiben auf der Worterkennungsebene stecken.[3] Ins Stocken kommt damit auch ihre Bildungsbiographie.
Erosion der Schulqualität
Die Meldung aus Deutschland ging einher mit Klagen über den Niveauverlust in Schweizer Schulen. Wenn 8 von 24 Schülerinnen und Schülern einer neunten Zürcher Schulklasse, also ein Drittel, «wenige Wochen vor dem Schulabschluss kaum richtig lesen und schreiben» können, lässt das hellhörig werden.[4] Ein Einzelfall? Wohl kaum. Gar von «Erosion der Schulqualität» ist die Rede und vom «Tohuwabohu» in gewissen Klassenzimmern.[5]
Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig lesen, diagnostiziert die Pisa-Studie. Er versteht das Gelesene nicht. Ein Viertel der 15-Jährigen ist darum nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Seit Jahren sinken die Leistungen der Schweizer Schüler. Schon vor Längerem hat die renommierte ETH-Lernforscherin Elsbeth Stern darauf hingewiesen, wonach mindestens 15 Prozent der schulentlassenen Jugendlichen funktionale Analphabeten oder Illiteraten seien. Hier liegt offenkundig ein Systemversagen vor: 2020 investierten Bund, Kantone und Gemeinden über 40 Milliarden in die Bildung, den grössten Teil davon in die obligatorische Schule.
Reformen kaum in ihrer Komplexität betrachtet
Und noch etwas wissen wir: In der Schweiz können rund 800’000 Erwachsene nicht gut schreiben; sie haben Mühe, einen Text zu verstehen. «Wie kann es sein, dass es einem wohlgenährten Bildungssystem nicht gelingt, allen Schulpflichtigen das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen», fragt die NZZ.[6] Und sie fragt zu Recht.
Die Schule erlebte in den letzten Jahren eine hohe Zahl an Reformen. Innovation reihte sich an Innovation. Der pädagogische Kompass kannte lange Zeit nur eine Richtung: Umbau, Reorganisation und Implementation von Neuem. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken aber daran, dass sie meistens nie in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden. Welche Effekte werden an welcher Stelle ausgelöst? Oder gar in Kauf genommen? Welches sind die Folgen? Am Ende ist es immer die Überkomplexität des Systems; sie relativiert die Reformeffekte oder kehrt sie gar um. Darauf hat der Systemtheoretiker Niklas Luhmann aufmerksam gemacht. Es ist das «Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen». Im Reformeifer wurden Wirkung und Wechselwirkung vielfach negiert. Formuliert hat das Gesetz der Pädagoge und Philosoph Eduard Spranger.
Grundfertigkeit müssen intensiv trainiert werden
Das überkomplexe Bildungssystem resultiert auch aus den Kräften der Addition. Sie ist die Kennziffer der Schulentwicklung der vergangenen Jahre und resultiert aus der Tendenz, Qualität als Addition verschiedener zählbarer und kontrollierbarer Einheiten zu verstehen. Wenn die Aufgabenfülle aber steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Eine einfache Gegenbuchung! Viele Dinge können nur noch flüchtig gestreift werden. Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden nur erschwert Erfahrung und bleiben Bruchstück. Lehrerinnen und Lehrer kommen kaum mehr zu vertieftem Festigen und Automatisieren. Verbindlichkeit und Effizienz der Lernprozesse nehmen ab. Aus der Gedächtnispsychologie aber wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt insbesondere für die grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben.
Hier läge der Schlüssel: Die Primarschule müsste ganz gezielt das Lesen und das Schreiben üben. Intensiv und regelmässig. Die sinkenden Lesefähigkeiten liegen in der geringen Lesezeit an den Schulen mitbegründet. Das Trainieren von Lesen wie auch von Schreiben kommt zu kurz. Üben ist über lange Zeit gerade im Deutschunterricht diskreditiert worden. Tägliche Übungsphasen von zehn bis fünfzehn Minuten bringen den Kindern die nötige Routine; sie lernen automatisiert lesen und schreiben. Wenn sie das beherrschen, können sie auch Freude am Lesen entwickeln. Es wäre der erfolgreiche Übergang vom Lesenlernen zum Lesen, um zu lernen.
Wann kommt Frühdeutsch?
Wer Zweitklässler lesen hört, denkt unwillkürlich: «Und in der dritten Klasse kommt zusätzlich noch Frühenglisch! Zwei Jahre später dann Frühfranzösisch.» Da liegt der Gedanke nicht mehr fern: «Und wann kommt denn Frühdeutsch?»
Die Überkomplexität des Bildungssystems auf Wesentliches und Grundlegendes zu fokussieren, was denn auch den Zugang zu komplexeren Fragestellungen erleichtert, das wäre Aufgabe einer verantwortungsbewussten Bildungspolitik. An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht, die Kernelemente einer guten Schule herauszudestillieren und das System neu auszurichten. Schulkinder, die kaum lesen und schreiben können, und 800’000 funktionale Analphabeten sind für das Land mit dem weltweit höchsten Bildungsaufwand zu viel.
[1] https://www.bildungsserver.de/internationale-grundschul-lese-untersuchung-iglu-studie-deutschland-8341-de.html [konsultiert: 27.05.2023]
[2] Heike Schmoll: Viertklässler können immer schlechter lesen. In: FAZ, 17.05.2023, S. 1.
[3] Dies.: Zu wenig Unterrichtszeit fürs Lesen. In: FAZ, 17.05.2023, S. 2.
[4] Nadja Pastega: Ein Drittel kann kurz vor dem Schulabschluss nicht richtig lesen und schreiben. In: Sonntagszeitung, 07.05.2023, S. 18.
[5] Julia Hofer: Tohuwabohu im Klassenzimmer. In: Beobachter 25/2021, S. 92.
[6] Claudia Wirz: Die betreute Gesellschaft. In: NZZ, 23.05.2023, S. 22.