Längst ist auch Johann Heinrich Pestalozzi entmythologisiert und dekonstruiert – wie so viele denkmalgestützte Persönlichkeiten aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Nun aber wird er revitalisiert und sogar vergoldet – als Zeuge für eine Bildungsrevolution. Ein paar gegenhaltende Gedanken.
Wer wirken will, muss wuchtige Worte wählen. Und das tun sie, die Bildungsaktivistinnen und «Bildungsrevolutionäre», wie sich die Mitglieder des Züricher Kleinunternehmens «Intrinisc» apostrophieren. «Ungerecht» sei unser Bildungssystem und nicht mehr «zeitgemäss». Da helfe eben nur eine Revolution. Sie wollen nichts weniger als den gegliederten Unterricht nach der sechsten Klasse aufheben und damit gleich auch das Langzeitgymnasium eliminieren. Dazu verschreiben sich die Promotoren einer neuen Bildung auch dem Kampf gegen den gemeinsamen Klassenunterricht zugunsten eines forcierten individualisierten Lernens und dem Wegfall jeglicher Noten. Unterstützt werden sie dabei vom Präsidenten des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH), Thomas Minder. Teilweise in die gleiche Richtung zielt auch Dagmar Rösler, die oberste Lehrerin der Schweiz und Präsidentin des Verbands Deutschschweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH).
Pestalozzis unerwartetes Revival
Zum Kronzeugen ihrer «Bildungsrevolution» erhebt die «Denkfabrik Intrinsic» Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), diesen erleuchteten Geist im Gewand eines Clochards, wie ihn der Literat Peter von Matt bezeichnet. Mit zahlreichen Spiegeln und gleissendem Sonnlicht brachte das Intrinsic-Team Ende März das Zürcher Pestalozzi-Denkmal zum Leuchten. Ein Revival des Pädagogen von unerwarteter Seite. «Wir sind eine ideologische Gruppe», so der Co-Geschäftsleiter von «Intrinsic». «Und Pestalozzi war ein Vordenker – wir wollen an seine Ideen erinnern.»[1] Darum müsse Bildung radikal neu gedacht werden.
Pestalozzis Skepsis gegenüber Noten
Bei den Ziffernnoten mögen die Zürcher Aktivisten recht behalten. Pestalozzi konnte ihnen wenig abgewinnen. Eigentlich gar nichts.[2] Allerdings betonte er immer wieder das Atmosphärische eines guten Unterrichts. In einem wertschätzenden Umfeld, einem fehlerfreundlichen Klima sind Noten ja nicht zwingend das Problem; sie können auch eine Hilfe sein, die Klarheit schafft. Entscheidend ist das lernfördernde Feedback, das klärende Gespräch – im Sinne der Artikulation der Differenz zwischen Sein und Sollen in Bezug auf die Sache, den Prozess und die Selbstregulation.
Das müssten wir dringend institutionalisieren und praktizieren. Und das müsste in der Schule intensiv und konkret erfolgen und vor allem in der Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen aufgezeigt und eingeübt werden. Das Gespräch zwischen Lehrer und Kind war Pestalozzi ein elementares Anliegen. Das sollte betont werden; diese Haltung liesse sich von ihm lernen, obwohl der Pädagoge mit seinem funkelnden Geist in der Praxis meistens gescheitert ist. Doch versucht hat er es mit einer nie versiegenden Leidenschaft.
Klassenunterricht: «Und ich war bey ihnen»
Pestalozzi aber als Feind und Abschaffer des Klassenunterrichts darzustellen, widerspricht allen Erkenntnissen aus seinem pädagogischen Handeln und seinen umfangreichen Schriften. Ein kurzer Blick in den «Stanser Brief» hätte genügt, und Pestalozzis Methode wäre aufgefallen. «Ich war von Morgen bis Abend, so viel als allein in ihrer Mitte. […] Sie waren bey mir, und ich war bey ihnen. Ihre Suppe war die meinige, ihr Trank war der meinige.»[3]
Und er fügte bei: «Hierauf baute ich. Dass mein Herz an meinen Kindern hange, dass ihr Glück mein Glück, ihre Freude meine Freude sey, das sollten meine Kinder vom frühen Morgen bis an den späten Abend, in jedem Augenblick auf meiner Stirne sehen, und auf meinen Lippen ahnden.»[4] Gemeinsamer Unterricht! Und Pestalozzi, der Erzieher, Helfer und Lehrer in Personalunion, mitten unter seinen Kindern.
Klassenunterricht ist nicht Frontalunterricht
Wer etwas diskreditieren will, verbindet die Sache mit einem negativen Attribut. Der Klassenunterricht als gemeinsames Lehr- und Denkgespräch zwischen Lehrerin und Schülern, als Gedankenaustausch zwischen Schülerinnen und ihrem Lehrer wird heute konsequent als «Frontalunterricht» dargestellt und damit diffamiert. Auch in der Sprache der Bildungsrevolutionäre. Kinder würden heute «immer noch meistens frontal unterrichtet», behaupten sie kühn. Sie wollen darum weg vom «linearen Frontalunterricht hin […] zu einem selbstorganisierten Lernen».[5]
Den Klassenunterricht den Kampf anzusagen ist so wenig zielführend wie nur noch mit dieser Methode allein zu arbeiten. «Jede Ausschliesslichkeit ist inhuman», hat der Basler Philosoph Karl Jaspers einmal gesagt. Entscheidend ist – auch in der Pädagogik – das Sowohl-als-auch. Ein guter Klassenunterricht hat darum immer die Individualität des Einzelnen wie das Gemeinschaftliche im Blick, das Persönliche und das Soziale. Klassenunterricht ist ein Zusammenspiel von Individuation und Sozialisation. Unsere Gesellschaft braucht heute mehr denn je ein Verständnis von Miteinandersein oder eben ein Wir, das zum gemeinsamen Handeln fähig ist.
«Singulär plural sein», liesse sich diese Haltung wohl umschreiben. Die Klassengemeinschaft als Biotop fürs spätere Leben, der Klassenunterricht als gemeinschaftsfördernde Lernform: Kinder lernen, sich in Gemeinschaft auf eine Thematik zu konzentrieren. Sie profitieren von den Stärken der Leistungsfähigeren oder setzen sich mit den Schwierigkeiten der schwächeren Mitschüler auseinander.[6] Eine gemeinsame Aufmerksamkeit, eine «joint attention», sei grundlegend für die gemeinsame Wirklichkeit, sagt der US-amerikanische Evolutionsbiologe Michael Tomasello.
Ein guter Klassenunterricht vermag viel
Doch die heutige Bildungspolitik bekommt Unterricht als lebendiges Miteinander-Sein, als gemeinsames Nachdenken kaum mehr in den Blick. Das Gemeinsame und Soziale werden wie ausgeblendet. Im Zusammenspiel mit digitalen Tools entstehen neue Formen des Lehrens und Lernens. Gefragt und gepusht ist das isolierte Lernen in der Atmosphäre eines digitalisierten Grossraum-Schulbüros. Ob Kinder dabei zu postmodernen Einzellern werden? Die Gefahr besteht.
Als dialektisches Gegengewicht ist der Klassenunterricht darum so notwendig wie dringend. Die empirische Unterrichtsforschung ist sich einig: Nicht digitalisierte oder virtuelle Formate, sondern verkörperte Lehre und persönliche Präsenz sind die wirksamste Form des Unterrichts – in gemeinsamer Interaktion.[7] Ein guter Klassenunterricht ermöglicht ein solches Lernen. Darum sollte er nicht als Frontalunterricht diffamiert, sondern revitalisiert werden. Dahin müsste eine Bildungsrevolution wohl zielen. Lernen wird erst im gegenseitigen Austausch zur Bildung.[8] Sie ist ein gemeinsamer Prozess, der Klassenunterricht das Gefäss.
Die gemeinsame Welt des Klassenzimmers
Es war Pestalozzi, der an der Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf einen gemeinsamen Unterricht hinwirkte: Jedes Kind brachte damals irgendeinen Kalender, eine Gült oder eine Bibel in den Unterricht und lernte für sich. Vereinzelung pur![9] Pestalozzi dagegen drängte auf gemeinsame Lehrmittel und damit auf einen gemeinsamen Unterricht. Kinder sollten miteinander lernen – für eine gemeinsame Welt. Das war damals notwendig, das gilt auch heute noch. Denn «die Welt liegt zwischen den Menschen», wie es die Politphilosophin Hannah Arendt unterstreicht. Das gilt auch im Mikrokosmos des Klassenzimmers.
[1]https://www.20min.ch/story/zuerich-aktivisten-liessen-pestalozzi-golden-erstrahlen-103076596[abgerufen am 06.04.2024]
[2] Ob der sprachliche Bedeutungscharakter dieser Ziffern damals schon bekannt war, entzieht sich meiner Kenntnis.
[3] Pestalozzi über seine Anstalt in Stans [kurz: «Stanser Brief» von 1799] (1997). Mit einer Interpretation und neuer Einleitung von Wolfgang Klafki. 7. Aufl. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, S. 13.
[4] Ebda., S. 12.
[5] Anja Burri: Revolution in der Schule: Lernen nach dem Lustprinzip. In: NZZaS, 18.08.2019.
[6] Vgl. https://www.bruehlmeier.info/texte/paedagogik/individualisieren/[abgerufen am 06.04.2024]
[7] Vgl. Thomas Fuchs: Leibliche Präsenz. Lehren und Lernen in Begegnung. Vortrag Universität Bern, 16.02.2024. Msc. unpubl.
[8] Klaus Zierer: Selbst verschuldet unmündig durch Chatbots? In: FAZ, 29.02.2024, S. 6.
[9]Heute haben wir etwas Ähnliches, den Imperativ des «Bring your own device (BYOD)»!: jeder und jede mit dem eigenen Gerät im Schulzimmer, seien es Laptops, Tablets oder Smartphones.