Während sich der US-Senat noch streitet, ob er nach dem Schulmassaker in Texas die nationale Waffengesetzgebung verschärfen soll, geht der alltägliche Wahnsinn des unkontrollierten Schusswaffengebrauchs weiter. Dabei werden die Täterinnen und Täter immer jünger. Auch Kinder töten schon.
Der Streit zwischen einer 41-Jährigen und einer 31-Jährigen Anfang der Woche bei einer Grillparty in Orlando (Florida) drohte kurz vor Mitternacht zu eskalieren und zwischen den beiden Frauen flogen auch bereits die Fäuste. Während des Zoffs gab die 31-jährige Frau ihre Handtasche, in der sie eine geladene Pistole mit sich trug, der zehnjährigen Tochter.
Als der Streit nicht aufhörte, griff sich das Mädchen die Waffe und schoss der anderen Frau in den Kopf. Zeugen zufolge schrie die Mutter darauf die Tochter an: «Du hast diese Lady erschossen.» Worauf das Mädchen an die Adresse des Opfers zurückschrie: «Du hättest mit meiner Momma nicht zu streiten brauchen.» Obwohl Mutter und Tochter realisierten, dass die 31-Jährige tot war, kehrten sie unbewegt in ihre Wohnung zurück.
Strafverfolgung noch offen
Die Zehnjährige ist inzwischen verhaftet worden und könnte wegen Totschlags angeklagt werden, obwohl die lokalen Strafverfolgungsbehörden noch nicht entschieden haben, ob sie gegen das Mädchen vorgehen wollen. Auch dessen Mutter befindet sich in Haft und dürfte wegen mehrerer Delikte angeklagt werden, inklusive der Kindsvernachlässigung und des fahrlässigen Aufbewahrens einer Schusswaffe. «Das ist einer der tragischsten Fälle, die ich in meiner 22-jährigen Laufbahn erlebt habe», hat die zuständige Staatsanwältin des Bezirks verlauten lassen.
Lediglich wenige Tage zuvor, am 26. Mai 2022, hatte ebenfalls in Orlando ein Zweijähriger seinen 26-jährigen Vater in der Mietwohnung der Familie getötet. Der fünfjährige Bruder des jungen Täters nannte den Zweijährigen gegenüber der Polizei als Schützen: «Er hat Papi erschossen.» Der Knabe hatte die geladene Pistole in der Wohnung gefunden und abgedrückt, während der Vater am Computer ein Videospiel spielte.
Munition und Windeln
Die Aussagen der betroffenen Mutter bezüglich des Aufbewahrungsorts der Waffe waren widersprüchlich. Auch ihr droht ein Verfahren wegen Totschlags und, falls sie verurteilt wird, eine Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren. Ironie der Geschichte: Das Opfer hatte vor der Tat vergeblich versucht, die halbautomatische Glock zu verkaufen, um eine Verkehrsbusse im Staat Georgia bezahlen zu können.
Bei der Hausdurchsuchung in Orlando fand die Polizei neben der Pistole drei Magazine mit 9mm-Patronen. Eines der Magazine lag in einem Schrank auf einem Kindersitz, neben einer Schachtel Biskuits und einer Windel. Beide Eltern waren wegen Kindsvernachlässigung und Drogenbesitzes bereits auf Bewährung.
Waffen im Kinderrucksack
Zuvor hatte sich Anfang Februar in Jefferson (Louisiana) der vierjährige Jarion auf dem Rücksitz eines Autos erschossen. Der Knabe hatte die Waffe unter einem Vordersitz gefunden, während die Mutter und ihr Freund hinter dem Steuer Marijuana rauchten. Die beiden hatten nicht bemerkt, dass das Kind die Waffe entdeckt hatte und sie sich an die Schläfe hielt. Mit dem Knaben sassen noch zwei jüngere Geschwister im Auto. Noch ist kein Erwachsener verhaftet worden. «Sie haben gerade ihr Kind verloren, und es war sicher nicht absichtlich», sagte der Sheriff der Gemeinde.
Gemäss der Organisation «Everytown for Gun Safety», die für schärfere Waffengesetze kämpft, kommt es in den USA Hunderte Male pro Jahr vor, dass Kinder sich selbst oder andere Menschen erschiessen. Seit 2015 hat es 2’440 solcher Fälle gegeben, wobei 915 Menschen gestorben sind. Im vergangenen August zum Beispiel fand ein Kleinkind eine ungesicherte, geladene Waffe zu Hause in einem Kinderrucksack und erschoss seine Mutter, während sie an einer Zoom-Konferenz teilnahm. Der 22-jährige Vater des Kindes wurde wegen Totschlags und fahrlässigen Aufbewahrens einer Handfeuerwaffe angeklagt.
Absolut vermeidbare Tragödien
«Jedes Jahr erlangen Kinder in den Vereinigten Staaten Zugang zu ungesicherten, geladenen Waffen in Schränken und Nachttischschubladen, in Rucksäcken und Taschen, oder auch im Freien», schreibt «Everytown» im 2021 erschienenen Bericht «Vermeidbare Tragödien». Mit tragischer Regelmässigkeit würden Kinder solche ungesicherten Waffen finden und sich selbst oder jemand anderen töten.
Im vergangenen Jahr sind dem Report zufolge in den USA bei 392 unbeabsichtigten Schussabgaben 163 Menschen getötet worden. Der Tod durch Schusswaffen ist heute die häufigste Todesursache für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen einem Jahr und 19 Jahren. «Diese Tragödien sind zu 100 Prozent vermeidbar», sagt der im Fall des zweijährigen Täters in Orlando zuständige Sheriff.
Zögerliche Politik
Auch Präsident Joe Biden plädiert für striktere Gesetze, was das Aufbewahren von Schusswaffen betrifft: «Falls Sie eine Waffe besitzen, haben sie die Pflicht, sie zu sichern …, sie einzuschliessen, den Abzug zu sperren. Falls Sie das nicht tun und es geschieht etwas, sollten Sie zur Rechenschaft gezogen werden.» Noch aber hat die amerikanische Politik, stark beeinflusst von der nationalen Waffenlobby, nicht reagiert.
Derzeit debattiert das demokratisch beherrschte Abgeordnetenhaus in Washington DC zwei Gesetze in Sachen strikterer Schusswaffenkontrolle, doch die beiden Vorlagen, sollten sie verabschiedet werden, dürften im Senat, wo die Republikaner über eine Sperrminorität verfügen, keine Chance haben. Zwar berät inzwischen ein überparteilicher Ausschuss der kleinen Kammer über das emotionale Thema Waffengesetzgebung. Das hehre Gremium hat aber angesichts der politischen Tragweite des Geschäfts für Geduld plädiert.