Aus der Quantenphysik kennen wir die Unschärferelation: Je präziser man zum Beispiel den Ort eines Teilchens misst, desto „verschmierter“ seine Geschwindigkeit. Und umgekehrt. In der Politik existiert eine Unschärferelation zwischen Bedeutung und Wirksamkeit eines Begriffs: Je stärker die politische Wirksamkeit, desto „verschmierter“ die Bedeutung; je präziser die Bedeutung, desto schwächer die politische Wirksamkeit. Mit präzisen Begriffen lassen sich Beweise führen, aber nicht politische Siege erringen. Verschwommenheit ist ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste politische – oder sagen wir: propagandistische – Kampfmittel.
Die Bedeutungsunschärfe von „Populismus“
Auf keinen aktuellen Begriff trifft dies besser zu als auf jenen des Populismus. Um die Analogie zur Quantenphysik weiter zu strapazieren (die Physiker mögen es mir bitte nachsehen): Wenn wir am Anfang den präzisen Ort eines Teilchens kennen und es dann seiner Entwicklung überlassen, dann wird mit der Zeit die Ortsunschärfe grösser, und wir wissen immer weniger, wo genau es sich befindet. Analog verhält es sich mit der Bedeutung des Populismus. Das Wort hatte zunächst seinen präzisen „Ort“. Zum ersten Mal soll es um 1890 geäussert worden sein, und zwar gemünzt auf die sogenannten „Präriepopulisten“, amerikanische Farmer, die sich für eine robuste Regelung des Kapitalismus engagierten. Inzwischen hat sich die „Ortsunschärfe“ des Wortes derart vergrössert, dass es nahezu warme Luft geworden ist, wie zum Beispiel auch „Nazi“, „Faschist“ oder „Linker“.
„Conceptual stretching“
Man spricht von „conceptual stretching“, von Begriffsüberdehnung. 1967 fand an der London School of Economics eine erste akademische Konferenz über Populismus statt. Die Soziologen Ernest Gellner und Ghita Ionescu schrieben bereits damals: „Ein Gespenst geht um in der Welt – der Populismus.“ Die Wissenschaftler hatten ihre Mühe, einen Konsens zu finden, worüber sie eigentlich sprachen. Im Abschlussresümee steht: „Es besteht kein Zweifel über die Wichtigkeit des Populismus. Aber niemand weiss, was er ist.“ Auch hier – nur en passant – eine Parallele zur Quantenphysik: Es besteht kein Zweifel, dass die Quantentheorie die erfolgreichste Theorie der Materie ist, aber die Physiker wissen nicht, wovon sie eigentlich handelt.
Nicht den Populismus ins Visier nehmen, sondern seine Ursachen
Der Populismus ist kein Gespenst, sondern eine Realität. Und sie ist umso unheimlicher, als wir sie, wie uns gesagt wird, nicht angemessen verstehen. Auf jeden Fall lässt sich wiederum eine Unschärferelation statuieren: Je ausschliesslicher wir auf das Phänomen Populismus starren, desto mehr entschwinden uns seine Ursachen aus dem Gesichtsfeld: ökonomische Ungleichgewichte, soziale Verwerfungen, politische Instabilitäten. Dass Liberalismus heute in weiten Bereichen Freiheit der Geschäftemacherei und Finanzschieberei bedeutet, ist eine empörende Trivialität; desgleichen, dass die massgebenden Subjekte dieses Liberalismus – die „Eliten“ – oft nicht viel mit Demokratie am Hut haben, sei es in den Konferenzräumen der westlichen Weltkonzerne, sei es in den Schaltkammern der chinesischen Machthaber. In beiden Fällen führt im Spätestkapitalismus eine antidemokratische Mentalität das Regiment, versteckt autoritär im Westen, offen autoritär in China. Wenn Menschen unter solchen Bedingungen den diffusen Impuls zum „Aufstehen“ verspüren und sich ihrem Unbehagen und Unmut in Bewegungen „bottom up“ Luft verschaffen, kann dies nachvollzogen werden: Das ökonomische oder politische System funktioniert nicht zu unseren Gunsten, zu Gunsten der Mehrheit! So ruft der Populist in uns.
Populismus ist keine demokratische Pathologie
Natürlich löst man das Problem nicht mit Definitionen. Trotzdem, es gilt die Unschärferelation: Je offener man Populismus definiert, desto mehr Populisten wird man wahrnehmen. Fehlende Trennschärfe hat unter Umständen nichtintendierte, unliebsame Folgen. Das alte Problem der Hexenprozesse. Je unschärfer der Begriff der Hexe, desto grösser die Zahl der Hexen. So gesehen ist Populismus ein politischer Popanz, ein patenter Angsterzeuger.
Aber selbst wenn Populismus ein dünner bis leerer Begriff ist, muss man ihn ernst nehmen. Nur sollten wir das Phänomen nicht als demokratische Pathologie, sondern als Bestandteil der Demokratie betrachten. Wie der holländische Politologe Cas Mudde schreibt, ist der Populismus „die illiberale demokratische Antwort auf einen undemokratischen Liberalismus. Er stellt die richtigen Fragen und gibt die falschen Antworten.“ Eine dieser richtigen Fragen lautet: Wer ist Souverän eines demokratischen Staates?
Ich bin das „Wir“
Und die falsche Antwort lautet: das Volk. Dieser Grundbegriff des Populismus entspringt politischer Metaphysik. Denn „das“ Volk gibt es nicht, es ist empirisch unauffindbar. Und weil man es nicht auffindet, erfindet man es als Träger eines diffusen „Wir“: „unser“ Abendland, „unser“ Europa, „unsere“ Schweiz. „Es ist ein Wir, dem die Wirklichkeit nicht entspricht“, schreibt Robert Musil: „Wir Deutsche, das ist die Fiktion einer Gemeinsamkeit zwischen Handarbeitern und Professoren, Schiebern und Idealisten, Dichtern und Kinoregisseuren, die es nicht gibt. Das wahre Wir: Wir sind einander nichts.“
Die Fiktion kann in den Wahn kippen: Der Vertreter „des Volkes“ muss „das Volk“ gar nicht befragen, er weiss schon apriori, was es will – es ist ihm zu Kopf gestiegen. Ich bin das „Wir“. Robespierre soll einmal ausgerufen haben, er sei das Volk, ganz der alten absolutistischen Herrschaftslogik verpflichtet. „ER will, was WIR wollen“, lautete ein Slogan des österreichischen Freiheitlichen Heinz-Christian Strache.
„Der“ Souverän existiert nicht
Wir alle haben Bedürfnisse und Interessen, aber das „Wir“ des Volkes hat keine Bedürfnisse und Interessen. Die demokratische Realität ist der ständig neu ausgetragene Wettbewerb in der Debatte, wie ein „Standard-Wir“ sich aus Wahlausgängen formiert und reformiert. Darin liegt ja auch der Sinn etwa der Redewendung „Der Souverän hat sich mit 66.3 Prozent der Wählerstimmen gegen die Selbstbestimmungsinitiative entschieden.“ Die Prozente definieren den „Willen“ des Souveräns, nichts anderes.
Der Populismus möchte „Volkssouveränität“ als eine Art von Leviathan inthronisieren. Aber dieser Souverän ist nicht ein über den Köpfen der Bürger schwebender Akteur. Und das Ziel kann nicht eine ewige Volksseelenruhe sein. In Demokratien gibt es immer mehr oder weniger sichtbare Risse und Verwerfungslinien, freilich nicht zwischen „Volk“ und „Elite“, nicht zwischen denen „da unten“ und denen „da oben“, zwischen „gesundem Menschenverstand“ und „Expertenverstand“, et cetera pp. Es stimmt zwar durchaus, dass Experten und Eliten sich immer wieder einmal anmassen, zu wissen, wie die Welt wirklich tickt. Trotzdem bleibt Demokratie eine politische Form des permanenten Nicht-Konsenses, oder eines nicht-permanenten Konsenses: ein Zustand, in dem Opposition und Dissens als Normalfall akzeptiert sind; und in dem die Bürger die Fähigkeit pflegen und unterhalten, einander zu widersprechen, ohne sich gegenseitig zu dämonisieren oder sich die Köpfe einzuschlagen.
Den Politikern aufs Maul schauen, nicht „dem“ Volk
Ich wiederhole, der Folklore – „Volksweisheit“ – zum Trotz: „Das“ Volk ist nicht das souveräne Subjekt der Demokratie. Es sind individuelle Menschen, die sich aus verschiedensten Motiven zu verschiedensten Zielen immer wieder neu gruppieren und streiten – und die für diesen Streit einen Verfassungsrahmen beanspruchen können, der den gewaltfreien Meinungskonflikt garantiert. Das ist eigentlich schon sehr viel und muss auch immer wieder erkämpft werden. Der Begriff des Volkes gehört nicht in eine moderne heterogene Demokratie. Seine Unschärfe dient sich der heimlichen Demokratierverachtung an. Deshalb müssen wir auch schärfer jenen aufs Maul schauen – links wie rechts – , die „dem“ Volk angeblich aufs Maul schauen.