Die Unterrichtssprache verändert sich. Das ist nichts Neues; neu hingegen ist das sprachliche Imponiergehabe im Bildungswesen. So wird die schulische Integration per se als Menschenrecht deklariert. Plädoyer für mehr Bescheidenheit.
Es war einmal eine Kindergärtnerin. Was ist sie heute? Eine Bachelor of Arts in Pre-Primary and Primary Education. So mindestens lautet der Lehrgang an verschiedenen Pädagogischen Hochschulen. Und was ist aus dem Lehrer geworden? Natürlich ein Bachelor of Arts in Primary Education. Aufbau von Wissen und Können, Prüfungen, Schule des Denkens: Das waren vertraute Bildungsbegriffe. Wie heissen sie aktuell? Kompetenzorientierung, Lernzielevaluationen, kognitive Operationsmodi.
Mundgerechte Fast-Food-Statements verkennen die Sache
Nun zweifelt niemand, dass Fachwissenschaften ihre ganz spezifische Fachsprache sprechen müssen. Niemand kann die Ergebnisse der Humangenetik und der Nuklearmedizin, der Atomphysik und der Biochemie, der Pharmazeutik und der Computerwissenschaften in jener Alltagssprache wiedergeben, die allen vertraut ist. Auch philosophische Erkenntnisse, juristische Sachverhalte, ökonomische Einsichten fallen nicht einfach vom Himmel – man muss sie in zähem Ringen erwerben und kann sie in der jeweiligen Fachsprache präziser fassen.
Oder anders gesagt: Wissenschaften haben ihre eigenen Probleme, die aus der Sache kommen – und darum ist auch ihre Sprache und sind ihre Begriffe nicht in Windeseile pfannenfertig zu präsentieren. Mundgerechte Fast-Food-Statements verkennen oft den Kern der Sache. Das gilt auch für die Pädagogik.
Terminologischer Schwulst und Verklausulierungssucht
Und doch ärgert die Sucht vieler Bildungsfachleute, alles und jedes in einer Sprache auszudrücken, die zwar wissenschaftlich ist oder wenigstens so klingt. Doch oft ist es gar keine Wissenschaft, oft sind es nur Worthülsen und damit nicht viel mehr als fachliches Imponiergehabe.
Ein konkretes Beispiel, wie eine Pädagogische Hochschule ihre Studierenden auf die soziale Vielfalt im Schulalltag vorbereiten will: «Mit der Selbstverständlichkeit kultureller Heterogenität in Gesellschaft, Schule und Unterricht sieht sich die Lehrerinnen- und Lehrerbildung herausgefordert, Lehrpersonen den Erwerb von Fähigkeiten zu ermöglichen, die eine produktive Gestaltung von Schule und Unterricht im multikulturellen Kontext erlauben. [Unser Projekt] arbeitet deshalb prototypische Reflexionsmuster heraus, wie angehende Lehrpersonen kulturelle Unterschiede spezifisch im schulischen Kontext reflektieren, und verdichtet diese Reflexionsmuster zu einem Stufenmodell der Normalitätsreflexionen. Damit werden unterschiedliche Reflexionstiefen bezüglich kultureller Unterschiede im monokulturell geprägten schulischen Kontext beschrieben, die in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung diagnostiziert und gezielt bearbeitet werden können.»
Wissenschaftlichkeit dank Unverständlichkeit?
Ob jemand diese Sätze versteht? Die meisten schweigen wohl ehrfürchtig. Ein pseudowissenschaftliches Sprachgewölk! Das wortreiche Getöse erinnert an die berühmte Aussage des Schriftstellers Wolf Schneider: «Der Ausweis der Wissenschaftlichkeit erfolgt durch den Nachweis der Unverständlichkeit.»[1]
Man könnte getrost darüber hinwegsehen und solche Texte mit einer Prise Ironie hinnehmen, hätte diese Sprache, hätte dieser fast unkontrolliert wuchernde Fachjargon nicht Folgen. Der Drang, alles zu verwissenschaftlichen, hat Bildung und Erziehung in Atemnot gebracht. Das zeigt sich auch bei der Lektüre des gemeinsamen Lehrplans der 21 deutsch- und mehrsprachigen Kanton der Schweiz, kurz Lehrplan 21. Viele Begriffe sind schwammig, Sprache und Stil kompliziert und oft wenig verständlich.
Sprachlicher Schamanenzauber!
Ein beliebiges Beispiel: «Idealerweise bieten gestaltete Lernumgebungen mannigfaltige durch Lehrpersonen und Lehrmittel unterstützte Lerngelegenheiten, einzelne oder verschiedene Facetten einer Kompetenz zu erwerben, zu festigen und in Anwendungssituationen zu nutzen. Durch ihre Ausrichtung auf die aktive Auseinandersetzung mit Gegenständen und Aufgaben werden bei Schülerinnen und Schülern vielfältige rezeptive und gestalterische Arbeits- und Denkprozesse angeregt.» Was sollen Eltern und Lernende mit solchen Sätzen zur Lernsystematik anfangen?
Eine Art sprachlicher Schamanenzauber! Kurz, klar und konkret wäre wohl: «Lehrerinnen und Lehrer gestalten vielfältige Lernsituationen; sie führen so die Kinder zu neuem Wissen und Können. Dazu gehören die Impulse zum Nachdenken, das Üben und Festigen des Gelernten sowie das Anwenden in veränderten Bezügen.» Für zünftige Lehrplangestalter ist das vermutlich zu simpel, zu verständlich, zu wenig beeindruckend.
Wenn eine Unterrichtsform zum Menschenrecht wird
Beeindruckend dagegen, wie ein bestimmtes Schulsystem als Menschenrecht deklariert wird. Gemeint ist der integrative bzw. inklusive Unterricht. Darunter wird die möglichst umfassende gemeinsame «Schulung von Kindern mit und ohne besonderen Bildungsbedarf in der Regelschule verstanden».[2] Sie geht auf die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 zurück. Die Schweiz hat sie 2014 ratifiziert. In Artikel 24 heisst es: «Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten [sie] ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen.»
«Es geht um Menschenrechte» (Markus Matthys)
Im eidgenössischen Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) steht unter Artikel 20, Absatz 1 & 2: «Die Kantone sorgen dafür, dass behinderte Kinder und Jugendliche eine Grundschulung erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist. [Sie] fördern, soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule.»
Aus diesem Passus wird nun ein Menschenrecht extrapoliert. Dazu die Züricher Bildungsdirektorin Silvia Steiner wörtlich: «Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein Menschenrecht.»[3] Noch deutlicher wird Prof. Markus Matthys, Dozent an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik. «Es geht [hier] um Menschenrechte», behauptet er kühn [4] und stipuliert dieses Menschrecht auch für die totale Integration aller Kinder und Jugendlichen in Regelklassen, die Inklusion. Für alle das Gleiche. Allerdings kann die durch Gleichheit scheinbar gewonnene Gerechtigkeit leicht in Ungerechtigkeit umschlagen. Auch der Gleichheitssatz der eidgenössischen Bundesverfassung impliziert ja in der Rechtspflege ein Differenzierungsgebot: Nicht nur ist Gleiches gleich zu behandeln, sondern auch Ungleiches ungleich.[5]
Etwas mehr Bescheidenheit, bitte!
Das ethisch so bedeutsame Anliegen der Integration führt uns ins moralische Dilemma zwischen dem Prinzipiellen und dem systemisch Machbaren und individuell Verantwortbaren. Doch mit der Konnotation der Integration und Inklusion als Menschenrecht wird im kommunikativen Handeln ein absoluter Geltungsanspruch erhoben. Das wichtige Postulat der Integration entzieht sich so jedem Diskurs. Dieses Dogmatische irritiert. Wer auch nur einen kleinen, kritischen Einwand gegen das momentane Modell des integrativen Unterrichts ins Feld führt, verstösst damit gegen Menschenrechte. Vergessen geht der hohe pädagogische und psychologische Anspruch an diese Unterrichtsform. Die Dynamik einer solchen Klasse kann schnell zur Überforderungssituation führen. Das Risiko ist gross. Nicht selten ist ein gemeinsamer, geordneter Klassenunterricht gar nicht mehr möglich.[6] Dabei leiden meist die Lernschwächeren. Das zeigt die Forschung. Die Integration bzw. Inklusion eines behinderten Kindes in die Regelklasse wird seinem menschenrechtlichen Anspruch auf eine gute Bildung nicht automatisch gerecht.
Auch das wäre mit zu bedenken. Ein bisschen mehr Bescheidenheit täte darum dem Bildungsdiskurs gut – in mancher Beziehung!
[1] Wolf Schneider: Korrektes Deutsch – das ist zu wenig. In: NZZ Folio, 31.12.2011.
[2] Definition der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK.
[3] Nils Pfändler, Lena Schenkel, «Ich glaube nicht an Visionen für die Zukunft der Schule». Interview mit Silvia Steiner, in: NZZ, 28.01.2019, S. 15.
[4] In: Julia Hofer: Tohuwabohu im Klassenzimmer. In: Beobachter 25/2021, S. 92.
[5] Jörg Paul Müller: Grundrechte in der Schweiz. Im Rahmen der Bundesverfassung von 1999, der UNO-Pakte und der EMRK. Bern: Stämpli Verlag AG, 1999, S. 397.
[6] Hofer, ebda., S. 94.