Am 16. Dezember will Bundeskanzler Olaf Scholz im Deutschen Bundestag die Vertrauensfrage stellen. Und sie verlieren, damit – wie angekündigt – am 23. Februar vorgezogene Parlamentswahlen stattfinden können. So etwas gab es schon einmal in der Nachkriegspolitik. Nämlich im Herbst 1982 unter dem (ebenfalls sozialdemokratischen) Regierungschef Helmut Schmidt, dem danach der Christdemokrat Helmut Kohl folgte.
Ob es für die CDU/CSU auch dieses Mal einen vergleichbaren Ausgang geben wird, entscheidet sich also Ende Februar. Die jetzige Ausgangslage ist eine völlig andere. Seinerzeit hatten die Bundesbürger die Wahl zwischen drei Parteien. Heute sind es sechs. Und die jüngsten Landtagswahlen im Osten der mittlerweile ebenfalls grösser gewordenen deutschen Republik mit den alarmierenden Erfolgen für die extremen Rechtsaussen von der AfD und dem schillernden, praktisch ausschliesslich auf eine Person zugeschnittenen, Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) habe einen Vorgeschmack darauf erkennen lassen, wie schwer nach dem Urnengang eine handlungsfähige Mehrheit gebildet werden könnte. Darüber hinaus ist für die Strategen nicht mehr viel Zeit bis zum Februar-D-Day (Tag der Entscheidung), um einen vernünftigen Wahlkampf zu organisieren. Einen Wahlkampf, der dem Millionenheer von Stimmberechtigten die unterschiedlichen Kernelemente der Bewerber klar erkennen lässt, mit denen sie das Staatsschiff in den kommenden vier Jahren durch die Wogen und Brecher der nationalen und weltpolitischen Ereignisse zu steuern gedenken.
«Ein schmutziger Wahlkampf»
Was ist nach dem Bruch der Berliner Ampel-Koalition nicht alles hinsichtlich des Erwartbaren gesagt und geschrieben worden. Es werde eine «harte» Auseinandersetzung werden, eine «schmutzige» gar. Die Gesellschaft solle sich auf einiges gefasst machen. Das ist wohl wahr. Zum Beispiel überrascht es schon jetzt nicht, dass versucht wird, dem Volk einzureden, in Deutschlands Wahlkabinen werde über Krieg oder Frieden entschieden. So jedenfalls klingt es aus den Hinterzimmern des Berliner Willy-Brandt-Hauses der SPD: Schaut, unser Olaf, der Friedenskanzler. Und so lassen sich auch die aktuellen Aussagen des erneut als deren Spitzenkandidat antretenden Noch-Kanzlers deuten. Die Menschen im Lande, sagt er, hätten zu entscheiden zwischen seiner mit sozialer Zuwendung gepaarten «Besonnenheit» in der Friedenspolitik und einer vom («regierungsamtlich unerfahrenen») christdemokratischen Herausforderer Friedrich Merz zu erwartenden sozialen Kälte im Verein mit vielleicht abenteuerlichen, auf jeden Fall gefährlichen friedenspolitischen Aktivitäten.
Man muss den CDU-Mann aus dem Sauerland ja wirklich nicht unbedingt mögen. Und die Art, wie er damals, nach dem verlorenen Machtkampf mit Angela Merkel einfach die Brocken hinschmiss, deutete in der Tat nicht gerade auf übermässig ausgeprägtes politisches Profil hin. Doch das ist lange her. Auch Merz ist inzwischen älter und – möglicherweise – reifer geworden. Und, gar kein Zweifel, natürlich haben er und seine Union andere wirtschafts- und sozialpolitische Vorstellungen als die SPD und auch die Grünen. Der Streit um Vernunft bzw. Unvernunft des Bürgergelds ist geradezu beispielgebend dafür. So gesehen ist es schon richtig, derartige Unterschiede klar herauszuarbeiten. Aber einem zweifellos demokratischen Mitbewerber um die Staatsmacht kurzerhand den Friedenswillen abzusprechen, ist schon heftig.
Putin und die deutsche Kriegsangst
Dies umso mehr, als die Unterstellung in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine steht. Gewollt oder nicht – Olaf Scholz und (wenigstens weite Teile der) SPD greifen damit die von Putin unentwegt geschürte Kriegsangst der Deutschen auf und verstärken sie daheim sogar noch. Mag sein, dass die Genossen mit einer solchen Strategie noch ein anderes – durchaus legitimes – Ziel verfolgen. Nämlich zu versuchen, wenigstens einen Teil jener einstmals treuen und vielleicht doch noch ansprechbaren Sozialdemokraten zurückzuholen, die inzwischen, den Schalmeienklängen der AfD folgend, zur den Rechtsaussen abgewandert sind.
Dennoch ist die Vorstellung abenteuerlich, dass ausgerechnet die Wahl eines neuen Bundestages über Krieg und Frieden entscheiden soll. Ausgerechnet in diesem Land, das seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts seine eigenen Streitkräfte geradezu lustvoll in einen jämmerlichen Zustand heruntergewirtschaftet hat. In einem Staat mit einer Bevölkerung, die pazifistischer kaum sein könnte. Die weiss (oder wenigstens wusste), was Krieg bedeutet. Und die vielleicht deshalb anfällig ist für solch simplifizierte Thesen, wie sie von den Verführern links und rechts gesäuselt werden. Dass man nur verhandeln müsse mit den Kriegstreibern in Moskau. Verhandeln – worüber denn? Deutschland ist keine Gross- und schon gar keine Weltmacht und auch keine Atommacht, auf die man hört. Deutschland besitzt eine Stimme allein im Verbund mit seinen Alliierten in der Europäischen Union und der NATO.
Wie stark ist die politische Mitte?
Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass gerade auf diese beiden Allianzen in Zukunft mannigfaltige Herausforderungen zukommen werden. Und zwar aus Moskau (und Peking) genauso wie aus dem von Donald Trump demnächst regierten Washington. Von dort vermutlich sogar am stärksten. Ob unsere von Frieden und Wohlstand geprägte und verwöhnte Öffentlichkeit darauf vorbereitet ist? Auf eine Zeit mit möglicherweise Blut, Schweiss und Tränen, um einmal Winston Churchill zu zitieren?
Dabei wäre das ein Thema, das auch und gerade jetzt in einen Wahlkampf gehörte. Nicht um das Unvorstellbare herbeizureden, sondern um die Wähler darauf einzustimmen, dass die goldenen und bequemen Jahre vorbei sind und möglicherweise durchaus einmal ein Verzicht auf vermeintlich unaufhaltsam wachsenden materiellen Wohlstand anstehen könnte. Was hoffentlich nie eintreten möge. Stattdessen wird im Moment jede aktuelle Äusserung aus «der Politik», jede Ankündigung, jede Entscheidung mit Hinweis auf den angeblich schon jetzt laufenden Wahlkampf abgetan. Ja, es sind nur noch wenige Wochen bis zum 23. Februar. Aber bis dahin muss der Staat doch trotzdem am Laufen gehalten werden. Und so kurz ist die Zeit nun auch wieder nicht, dass sich nicht jeder und jede in Ruhe Gedanken darüber machen könnte, wo er oder sie – von Vernunft gesteuert – das Kreuzchen auf den Wahlzetteln machen sollte.