Die grossen Klassikfestivals locken reihum mit den Stars der Branche, mit spannenden Konzerten und meist auch mit malerischer Umgebung.
Das Menuhin-Festival in Gstaad feiert dieses Jahr gleich auch noch zwei Jubiläen: den 100. Geburtstag von Festival-Gründer Yehudi Menuhin und die 60. Ausgabe des Festivals. Ein besonderer Reiz des Festivals liegt in den vielen kleinen Kirchen rings um Gstaad, die während der Sommerwochen zum Konzertsaal mutieren. Ausgangspunkt war vor 60 Jahren die Kirche Saanen, wo Yehudi Menuhin zusammen mit Benjamin Britten (am Klavier) und Maurice Gendrom (am Cello) seinerzeit die ersten Konzerte gegeben hatte.
Hier, in der Kirche Saanen, ist nun der Countertenor Philippe Jaroussky mit seinem Ensemble Artaserse aufgetreten. Mit betörender Stimme hat er Arien aus dem italienischen Barock vorgetragen, von Monteverdi bis Agostino Steffani. Begleitet von historischen Instrumenten. Unvergleichlich, wie Jaroussky von übermütigen Liedern zu tieftraurigen Weisen wechselt, wie sein Ensemble, die Stücke ineinanderfliessen lässt und damit jeglichen Zwischenapplaus verhindert.
Es ist tief emotionale Musik, die jeden in der Seele berührt. Im wahrsten Sinne beglückt tritt man anschliessend in die laue Sommernacht hinaus, oben der weite Sternenhimmel, ringsum die schwarzen Bergumrisse und der Duft nach Heu und Sommer.
In der Kirche Lauenen spielt dagegen die Geigerin Isabelle Faust, zusammen mit Jean-Guihen Queyras (Cello) und Alexander Melnikov (Piano). Auf dem Programm stehen späte Wiener Meisterwerke von Haydn, Schumann und Schubert. Auch hier: ein Klang, der einen durch die Stille der Nacht in Lauenen zurück nach Gstaad begleitet.
Workshop mit Lang Lang
Das pure Kontrastprogramm dann anderntags im grossen Festivalzelt: Die «Academy», ein immer wichtiger werdender Teil des Menuhin-Festivals. Kein Geringerer als Lang Lang leitet hier vor Publikum einen Piano-Workshop. Mit Jeans und T-Shirt kommt er locker auf die Bühne. «Hello…», ruft er jovial ins Publikum und nimmt in einem Clubsessel Platz.
Seit seinen Anfängen als Tausendsassa unter den Jungpianisten hat der mittlerweile 34-jährige Chinese nicht zuletzt dank seiner Zusammenarbeit mit dem gestrengen Nikolaus Harnoncourt musikalisch sozusagen höhere Weihen erlangt und gehört heute unbestritten zu den grossen Pianisten. Es kann also losgehen.
Als erster tritt Daniel Strahilevitz aus Israel mit drei argentinischen Tänzen an. Rasant greift er in die Tasten, kommt dann zu einem ganz leisen, ganz zarten Pianissimo, bevor ein Gewittersturm in Form von Musik über uns alle hereinbricht.
«Very good…», sehr gut, urteilt Lang Lang. Allzuviel habe er da gar nicht zu sagen. Allerdings: auf den Rhythmus müsse der junge Mann achten. Dann setzt Lang Lang sich selbst ans Klavier. Eine Hand auf den Tasten, in der anderen das Mikrophon, in das er spricht und den Rhythmus vorsingt. «ta ta ta taaaa ta…» Und wie im Galopp rast seine Hand über die Tasten, bevor er seinen Schüler doch noch warnt: «Don’t rush», also nicht zu schnell werden.
Sneakers statt High Heels
Als zweite kommt Sophie Holma aus Aarau, 17 Jahre alt. Sie stammt aus einer Musikerfamilie, hat bereits diverse Preise gewonnen und wird inzwischen von dem renommierten Schweizer Pianisten Oliver Schnyder unterrichtet. Lang Lang hat es sich wieder in seinem Sessel bequem gemacht, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
Sophie Holma spielt Chopin. Etwas schüchtern wartet sie anschliessend auf das Urteil. «You control too much…», meint Lang Lang, also zu viel Kontrolle. Schon ihre Finger seien zu angestrengt, sie müsse sich entspannen. Mit geradezu verklärter Miene setzt er sich selbst an den Flügel und demonstriert die wehmütige Süsse dieser Musik an einer Passage. Dann ein Blick unter den Flügel. Sie benutze das Pedal zu viel, meint er. Ein zweiter Blick unter den Flügel: mit high heels ginge das vielleicht auch nicht so exakt, mutmasst er. Er jedenfalls trage lieber Sneakers und habe es noch nie mit High Heels probiert …
Als nächster ist Nicolas Liang Salloum dran. Zackig und mit kindlich-ernster Miene tritt er auf die Bühne und stellt sich vor. 12 Jahre ist er alt und kommt aus Genf. Schwarze Hose, weisses Hemd und eine Brille mit popig blauem Gestell. Am Flügel muss er die Finger noch sehr spreizen, um mit seinen kleinen Händen die Tasten zu erreichen. Auch er spielt Chopin. Und würde man nicht sehen, dass dort ein Kind vor dem grossen Flügel sitzt, man würde es nicht glauben.
Lang Lang klopft ihm anerkennend auf die Schulter. «Very good, really beautiful», lobt er seinen kleinen Kollegen. Dann gibt er ihm doch noch ein paar Ratschläge mit auf den Weg. «Take your time» … nimm dir Zeit … nicht zu schnell spielen. Das sei wie Schwimmen, erklärt er, immer weiter, den Kopf über Wasser und Zug um Zug vorwärts. Auch die Musik gehe immer weiter vorwärts. Die Schluss-Töne dürfen dann aber ganz rasant sein. Lang Lang steht hinter Nicolas und drückt ihm kräftig die Schultern hinunter und Nicolas versteht: Mit aller Wucht setzt er den Schlusspunkt und im Festivalzelt brandet tosender Applaus für den Kleinen los. Der will gleich wegrennen, aber Lang Lang holt ihn zurück: Jetzt muss er sich erst noch artig verbeugen … Mit glänzenden Augen und roten Backen klemmt Nicolas die Noten unter den Arm und läuft hinter die Bühne. Dort warten bereits Fotografen und ein Fernsehteam auf ihn. Nicolas kann sich schon einmal daran gewöhnen, für den Fall, dass seine Karriere so rasant weitergeht, wie sie begonnen hat.
a-e-i-o-o-a …
Im Saal des Kirchgemeindehauses wird stattdessen gesungen. In der «Vocal Academy» versuchen vor allem junge Frauen den letzten Schliff zu bekommen. Ihre Professorin weiss, was es braucht, um auf der grossen Bühne zu bestehen. Es ist Silvana Bazzoni Bartoli, die Mutter der unvergleichlichen Cecilia Bartoli. Auch ihrer Cecilia stand sie von Anfang an zur Seite und ist immer mit gutem Rat zur Stelle. Mit Klavierbegleitung üben die jungen Frauen Arien, Duette und vor allem auch Stimm- und Aussprache-Übungen. Lang, langwierig und langweilig sind diese Übungen, aber ohne sie geht auf der Bühne später gar nichts. «Ancora», noch einmal, sagt Silvana Bazzoni Bartoli und singt vor, wie man klar und deutlich und mit offener Stimme «a-e-i-o-u-a» singt. Denn das «a» am Schluss darf nicht wie ein «o» klingen. Das «a» muss offen sein, hell, was aber gar nicht so einfach ist. Wie hinter einer Maske töne das, sagt sie immer wieder. Die Frauen sollten Mut und keine Angst haben, die Stimme fliessen lassen.
Unter dem Seitenvorhang auf der Bühne wuselt ein weisses Fellbündel hindurch. Ein kleiner Hund. Er legt sich flach auf den Bühnenrand und hört zu. Er kennt offensichtlich die Stimmübungen, die sein Frauchen da mit den Jung-Sängerinnen macht. Nach ein paar Minuten verdrückt er sich wieder in den Hintergrund. Vorn wird wieder «a-e-i-o-u» gesungen ...
Auch solche Szenen und Unterrichtsstunden sind wesentlicher Teil des Menuhin-Festivals, ganz im Sinne des Namensgebers, dem die Förderung junger Talente ein besonderes Anliegen war. Und wer weiss, vielleicht ist der eine Pianist oder die andere Sängerin bald einer der Superstars, der dann auf der grossen Bühne oder in einer der schönen Kirchen rings um Gstaad auftreten darf.
Gstaad
Menuhin Festival & Academy
bis 3. September 2016