Das Ringen zwischen dem türkischen Regierungschef Erdogan und den protestierenden Gruppen auf dem Istanbuler Taksim-Platz, aber auch in vielen anderen Städten, ist etwas Neuartiges für die Türkei. Grossdemonstrationen gegen Erdogan und sein pro-islamisches Regime gab es schon oft. Sie waren gang und gäbe in den Jahren, als Erdogan aufstieg und später seine Macht über die Urnen festigte, das heisst zwischen 2002 und 2005. Doch sie waren anderer Art. Organisiert durch eine disziplinierte Partei mit riesigen roten türkischen Fahnen, Aufmärschen und politischen Reden traten damals die Atatürk-Anhänger und türkischen Nationalisten auf. Die Militärs standen hinter ihnen, sie wussten das, und auch ihren Gegnern war es bewusst. Deshalb gab es auch keine Polizeirepression gegen sie.
Individuen statt disziplinierte Gruppen
Diesmal sind es Zehntausende von Individuen, die auf die Strasse gehen. Sie wissen alle, was sie nicht wollen, nämlich sich nicht von Erdogan kommandieren lassen, wie sie zu leben haben, demokratische Mehrheit hin oder her. Gewiss, die Nationalisten der Oppositionspartei CHP, die nicht vergebens den Namen der historischen Partei Atatürks trägt, sympathisieren mit ihnen und helfen ihnen.
Doch viele andere Strömungen fliessen ein. Die «Grünen», welche die Bäume des Gezi-Parks retten wollen; der linke Flügel der Gewerkschaften; Säkularisten, die eine schleichende Islamisierung ihres Landes wahrnehmen und fürchten; Kleingruppen der extremen Linken aller Variationen; manche Kurden und Mitglieder anderer Minderheiten, die für ihre künftige Freiheit fürchten; Menschenrechtsgruppen und Menschenrechtsadvokaten. Es gibt unter ihnen auch die Fussballfans, die gerne die Gelegenheit nutzen, um der Polizei eine Schlacht zu liefern. Elemente, die einfach Radau machen wollen, fehlen gewiss auch nicht. Den Ton aber scheinen junge Leute des Mittelstandes anzugeben, denen es um ihre persönliche Freiheit geht, Individuen viel mehr als Gruppierungen.
Zusammenballungen statt Märsche
Bisher sind türkische Demonstrationen von Gruppen ausgegangen, die in geschlossenen Rängen nach militärischem Vorbild auftraten. Nun sind es viele Einzelne, die sich beinahe spontan zu grossen Massen zusammenfinden. Ihre Massenspontaneität wäre nicht möglich ohne das Internet und die Mobiltelephonie. Der Ministerpräsident weiss, dass nach wie vor mindestens fünfzig Prozent aller Türken hinter ihm stehen, und er ist sich dessen bewusst, dass die anderen fünfzig Prozent unorganisiert, weitgehend machtlos und zutiefst gespalten sind, weil ihre positiven Zielsetzungen weit auseinandergehen, ja diametral entgegengesetzt sein können. Er kann deshalb zuversichtlich und offensiv auftreten.
Erdogans Unverständnis
Seine Reaktionen haben auch klar gemacht, dass er eine Sicht der Demokratie vertritt und verteidigt, die man als ein autoritäres Demokratieverständnis bezeichnen kann. Es besagt: Die Mehrheit kommandiert. Dies hat Erdogan verschiedentlich klar zum Ausdruck gebracht. Er wiederholte in all seinen Reden: «Meine Autorität beruht auf den Stimmen der Mehrheit.» Er hat «seine» Mehrheit aufgefordert, sich still zu verhalten. Wenn er wolle, so sagte er, könnte er sie zu einem alles übermannenden Sturm von Gegendemonstrationen aufrufen. Doch offensichtlich wollte er dies nicht, um nicht den Staat zu schädigen, den er, auf Grund seiner Stimmenmehrheit und auch seiner bisherigen politischen und wirtschaftlichen Erfolge, als «seinen» Staat sieht. Statt und anstelle «seiner» Mehrheit setzt er die Macht «seines» Staates ein, eine Ordnungsmacht gewiss, jedoch in der Form von Tränengaswerfern und Hochdruck-Wasserkanonen.
Autoritäre versus partizipatorische Demokratie
Dahinter steht klar, was man als ein autoritäres Demokratieverständnis bezeichnen kann. Zur Verteidigung Erdogans kann man anführen, dass keine Demokratie ganz ohne den autoritären Aspekt auskommen kann. Auch die liberalsten von ihnen haben ihre Polizei und ihre Armee. Doch zur Warnung Erdogans muss man hinzufügen, dass Autorität auch so weit gehen kann, dass sie das friedliche Zusammenleben einer nationalen Gemeinschaft zerstört.
Die Demonstranten – bei aller Verschiedenheit ihrer Ziele und Absichten – versuchen einem anderen Demokratiebegriff zum Durchbruch zu verhelfen. Sie fordern die Rechte der Minderheiten ein. Demokratie erlaubt in ihren Augen zwar der Mehrheit zu regieren, doch dieses Regieren sollte kein Herrschen sein, sondern stets im Dialog mit den Minderheiten geschehen, Kontakt und Beratung mit ihnen pflegen. «Wir haben auch Rechte», so unterstreichen sie ihre Haltung.
Die beiden Demokratievorstellungen können natürlich nicht hundertprozentig rein durchgeführt werden. Eine wegweisende Autorität ist ebenso notwendig wie die Berücksichtigung der individuellen und kollektiven Rechte der verschiedenen Minderheitsgruppen und Einzelpersonen.
Autorität im türkischen Staat
Es ist leicht verständlich, weshalb Erdogan einem autoritären Demokratieverständnis zuneigt. Es liegt in der politischen Tradition der Türkei, eines Staates, der fünf Jahrhunderte lang als absolute Monarchie gelenkt und verwaltet wurde und den man oft als «Soldatenstaat» oder Militärstaat beschrieben hat, weil das Militär, schon zur Zeit der Janissaren, in ihm eine entscheidende Rolle spielte. Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, war ein erfolgreicher General, bevor er sich zum Präsidenten erklärte.
Erdogan selbst ist eine Kämpfernatur. Ihr verdankt er seinen Aufstieg vom jugendlichen Fussballspieler aus einem Volksquartier Istanbuls zum Ersten Mann der Türkei – und ebenso auch seinen Sieg über die bisher allmächtigen türkischen Generäle, die seit dem Tod Atatürks im Jahr 1938 als Überväter die Politik ihres Landes beaufsichtigten, wenn sie nicht – wie mehrmals geschehen – direkt das Steuer übernahmen.
Erdogan ist auch der populärste und erfolgreichste Politiker, den die Türkei seit Atatürk kannte, und er hegt grosse Zukunftspläne. Wenn irgend möglich, möchte er Präsident der Türkei mit bedeutenden Vollmachten werden, nachdem 2015 seine letzte Amtsperiode als Ministerpräsident zu Ende geht. Er ist gewiss überzeugt davon, dass er seinem Land weitere Erfolge verschaffen kann.
Islam als Aufgabe
Erdogan ist auch ein gläubiger Muslim, der für seinen Glauben gelitten hat. Er sieht es zweifellos als eine seiner Aufgaben an, dem Islam in der Türkei wieder jene führende Position zu verschaffen, die er in den grossen Jahrhunderten der türkischen Geschichte einnahm. Wahrscheinlich ist er sich aber auch dessen bewusst, dass diese führende Position heute anders aussehen muss, als sie es damals war. Wie genau anders? Und inwieweit doch gleich oder ähnlich? Das dürfte er den Entwicklungen der Zukunft überlassen, die er jedoch entscheidend mitzugestalten gedenkt.
Wenn man sich diese – vermutete – Vorstellungswelt des türkischen Ministerpräsidenten zurechtzulegen versucht, kann man leicht sehen, dass für ihn der Widerspruch der «Chaoten» auf dem Taksim-Platz einen Schlag ins Gesicht darstellt, den er schwer hinnehmen kann. Er sucht ihn sich selbst und seinen Anhängern zu erklären, indem er seine Kritiker auf den Strassen als «von fremden Interessen gesteuert», als «reine Zerstörer und Plünderer», «verführt durch kriminelle Gruppierungen», «ausgenützt durch die politische Opposition» ansieht und beschreibt. All diese Gegenanklagen hat er verwendet.
Weder ganz recht noch ganz unrecht
Seine Sicht der Dinge macht es ihm schwer einzusehen, dass die Demonstranten mindestens teilweise Recht haben. Nicht nur sie, sondern auch viele Aussenstehende und Freunde der Türkei sehen, dass Erdogan das notwendige Gleichgewicht zwischen den autoritären Zügen einer politischen Demokratie und der Berücksichtigung der Wünsche und Freiheiten der Einzelnen und der Minderheitsgruppen gefährdet oder mindestens zu gefährden droht. Sie ermahnen ihn, dass er neben seinem eigenen Demokratieverständnis auch jenes seiner Gegner berücksichtigen müsste. Das seinige lautet: Der Mehrheitsführer regiert. Doch dieses Verständnis kommt nicht aus ohne das seiner Gegner, das fordert: In einer Demokratie müssen die Rechte und Mitsprachemöglichkeiten auch der Minderheitsgruppen und der Einzelnen bewahrt und gesichert werden.
Die bange Frage für die Zukunft der Türkei lautet: Vermag Erdogan es, über seinen eigenen Schatten zu springen? Wenn er es nicht kann, wird es schwer zu vermeiden sein, dass das Land sich weiter spaltet in die «50 Prozent» der Erdogan-Enthusiasten und die anderen «50 Prozent» von jenen, die zwar in Dutzende von Einzelgruppen gespalten sind, aber zunehmend glauben und fürchten, Erdogan könnte sie ihrer Rechte berauben.